In dieser Woche starten die Abi-Prüfungen in Hessen. Wer mit früheren Klausurfragen dafür lernen will, muss Bücher eines Fachverlags kaufen. Damit handelt sich das Kultusminsterium den Vorwurf der Bildungsungerechtigkeit ein.

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Kultusminister Lorz zur Kritik am Umgang mit alten Abi-Fragen

"Heute Abitur" steht auf einer Tafel im Klassenzimmer eines Gymnasiums.
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Wenn am Mittwoch in Hessen die schriftlichen Abi-Prüfungen beginnen, geht es um die Wurst – vielleicht aber auch um ein Hefegebäck. Vor einigen Jahren mussten sich Chemieschülerinnen und -schüler jedenfalls mit dem Problem des Kreppels und seiner nichtreduzierenden Disaccharide herumschlagen.

Wen es näher interessiert: Die Prüfungsfragen der vergangenen Jahre samt Lösungen finden sich an einer einzigen Stelle: Im Buch "Abiturprüfung Hessen 2023 – Chemie", für 14,95 Euro im Buchhandel erhältlich.

Solche Bücher gibt es für alle Fächer. Anderswo und gar gratis werden die alten Aufgaben aber eben nicht veröffentlicht. Und genau das ist für Kritiker des hessischen Kultusministeriums seit Jahren das Problem.

Kritiker: Prüfungen werden verscherbelt

Die Transparenzinitiative "Frage den Staat" und "Wikimedia Deutschland" haben pünktlich zu den diesjährigen Abschlussprüfungen die hartnäckige Forderung ihrer gemeinsamen Aktion "Verschlusssache Prüfungen" erneuert: Hessen und mehrere andere Bundesländer sollten alte Aufgaben endlich für alle Schülerinnen und Schüler kostenlos ins Netz stellen.

Die zur Prüfungsvorbereitung wertvollen Aufgaben wurden schließlich mit Steuergeldern erstellt, lautet ein Argument. Dabei geht es den Kritikern vor allem um Bildungsgerechtigkeit.

"Wer es sich nicht leisten kann, alte Prüfungen von einem privaten Anbieter zu kaufen, zieht bei der Vorbereitung den Kürzeren", schreibt Max Kronmüller von "Frag den Staat". Die anklagende Überschrift des Beitrags lautet: "Staat verscherbelt Prüfungen, Verlag verdient Millionen."

Stapelweise in Buchhandlungen

Das Land hat die Prüfungsaufgaben, es hat Antworten und Lösungswege. Es ist aber der Stark Verlag aus München, der sich vom Land die Lizenz zur Verwertung der Fragen früherer Jahre gesichert hat: ob in Deutsch, Französisch, Mathe oder Chemie.

Gut vier Fünftel des 13-Millionen-Euro-Umsatzes machte der Verlag 2021 mit diesem Angebot, wie die Kritiker von "Verschlusssache Prüfung" unter Verweis auf den Anfang dieses Jahres im Bundesanzeiger veröffentlichten Geschäftsbericht schreiben. Ein "Geschäft mit der Angst" nannte die Süddeutsche Zeitung das gerade.

Das Unternehmen ist auf Lernhilfen für Schüler und Unterrichtsmaterialien für Lehrer spezialisiert. Und seine roten Bücher zur Vorbereitung der Abschlüsse liegen zurzeit stapelweise in den Buchhandlungen. Gefragt sind sie nicht nur bei angehenden Abiturienten. Auch für Haupt- und Realschüler gibt es Ausgaben.

Wenige tausend Euro und ein paar Gratis-Exemplare

Dem Land Hessen zahlt der Verlag für die Rechte an den Fragen jährlich einen "niedrigen vierstelligen Betrag", wie ein Sprecher von Kultusminister Alexander Lorz (CDU) auf Anfrage mitteilt. Dafür erhält das Ministerium noch zwei Gratis-Exemplare pro Fach und die Links zum Online-Download.

Eine nicht repräsentative Umfrage unter jüngeren Kolleginnen und Kollegen in der Redaktion zeigt: Jeder kennt die Bücher, fast jeder hat eines vor seinem Abi gekauft. An der Qualität gab es offenbar nichts auszusetzen. "In Mathe hat es mir den Hintern gerettet", lautet eine Erfahrung.

Zwar ändern sich die Prüfungsaufgaben jedes Jahr, Wiederholungen sind ausgeschlossen. Aber die Kernthemen und Lösungen ähneln sich - entsprechend der sich nur langsam ändernden Lehrpläne.

Land erkennt keine Ungerechtigkeit

Warum stellt das Land Fragen, Antworten und Lösungshinweise nicht kostenlos online? Es ist ja alles auch ohne Verlagsarbeit da. Wird hier nicht ohne Not und zum Nachteil von Schülerinnen und Schülern aus weniger betuchten Elternhäusern etwas verscherbelt? Den Vorwurf der Bildungsungerechtigkeit weist das Kultusministerium in Wiesbaden kategorisch zurück.

Die Lehrkräfte, von denen die Schüler aufs Abitur vorbereitet werden, verfügten über alle Prüfungsfragen aus den Vorjahren, entgegnete Minister Lorz der Kritik gegenüber dem hr: "Und sie können die Aufgaben natürlich alle einsetzen und damit arbeiten." Es sei für die Schüler besser, "als wenn die Aufgaben einfach so durch Netz geistern und jeder macht sich so seine eigenen Gedanken, die noch dazu falsch sein können".

Dass man auch die Lösungen veröffentliche könnte, erwähnt der Minister nicht. Ob und wie intensiv die Lehrkräfte die alten Fragen in den Unterricht einbinden, bleibt letztlich ihnen überlassen. Das Vorgehen hat sich laut Lorz aber bewährt: Beschwerden von Abiturientinnen oder Abiturienten habe es jedenfalls in den vergangenen Jahren nicht geben

Copyright ein Problem?

Und was die eher bescheidene Bezahlung angeht: Der Stark Verlag erhalte lediglich die Fragen, macht das Kultusministerium außerdem geltend. Die Lösungsvorschläge müsse er schon selbst erarbeiten. Und er muss sich, so ein weiteres Argument für die Privatisierung der Abi-Fragen-Veröffentlichung, mit den Inhabern von Urheberrechten einigen.

Diese Rechte würden in Abi-Klausuren in Form von Texten oder Fotos häufig tangiert, heißt es aus dem Ministerium. Ein weiterer Grund, den die Landesregierung gegen eine Gratis-Online-Veröffentlichung anführt.

Manche Länder handeln anders

In immerhin sechs von 16 Bundesländern denken die politisch Verantwortlichen etwas anders - zum Teil als Folge der Kampagne "Verschlusssache Prüfung", wie die Initiatoren betonen. Ihrer Aufstellung zufolge stellen Niedersachsen und Schleswig-Holstein frühere Prüfungsaufgaben frei verfügbar ins Netz.

Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Bremen und Nordrhein-Westfalen bieten Prüflingen diesen Gratis-Dienst über den Zugriff auf ihre - allerdings verschlüsselten - Schulportale.

Hamburg sichert sich ab

Es geht aber auch noch heftiger als in Hessen. Schülerinnen und Schüler könnten sich nämlich auf das Informationsfreiheitsgesetz berufen, um durch individuelle, aber auch gebührenpflichtige Anfragen Auskunft vom Kultusministerium über frühere Fragen zu erhalten.

Hamburg hat als Negativ-Reaktion auf die Kampagne "Verschlusssache Prüfung" sogar diesen steinigen Weg durch eine Gesetzesänderung verstellt. Und anders als aus Wiesbaden bekommt der Fachverlag die Fragen in Hamburg sogar geschenkt.

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