Ausgeschnittene Portraits zweier Frauen auf hellblauem Hintergrund.

Jüdische Organisationen retten Holocaust-Überlebende vor dem Krieg in der Ukraine. Manche kommen im Frankfurter Altenheim der Budge-Stiftung unter. Zwei Frauen berichten hier, wie zum zweiten Mal ein Krieg sie aus ihrem Zuhause vertrieb.

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Holocaust-Überlebende aus Ukraine gerettet

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Sie haben schon einmal einen Krieg erlebt: Holocaust-Überlebende in der Ukraine. Manchen von ihnen gelang nun die Flucht vor dem aktuellen Krieg in ihrer Heimat - dank der jüdischen Hilfsorganisation Joint Distribution Committee (JDC). Zusammen mit der Jewish Claims Conference organisiert das JDC Rettungskonvois für die oft schwachen und kranken Über-80-Jährigen.

Auch im jüdisch-christlichen Altenheim der Henry-und-Emma-Budge-Stiftung in Frankfurt-Seckbach sind Hilfesuchende untergekommen. Andrew Steiman, Rabbiner der Budge-Stiftung, erwartet in den kommenden Tagen weitere Holocaust-Überlebende aus der Ukraine. "Sie bei uns aufzunehmen, ist der Beitrag unserer Hausgemeinschaft", sagt er: "Wir haben eine besondere Geschichte. Die Menschen des ersten Jahrgangs, der hier gelebt hat, sind im Zweiten Weltkrieg grausam ermordet und deportiert worden. Jetzt dreht sich die Fluchtrichtung. Und die Welt und wir drehen uns mit."

Der hr konnte mithilfe von Dolmetschern mit zwei Ukrainerinnen sprechen, die nun im Budge-Heim Zuflucht gefunden haben. Hier sind ihre Berichte.

"Für ältere Menschen wird das Leben in der Ukraine noch lange unsicher sein"

Tatyana Zhuraliova, Holocaust-Überlebende und Kriegsflüchtling aus Kiew

Ukrainische Holocaust-Überlebende im Frankfurter Altenheim der Budge-Stiftung

"Ich bin 83 Jahre alt und in Odessa geboren. Als der Zweite Weltkrieg begann, war ich zwei. Ich habe keine Erinnerungen an diese Zeit, kenne aber die Erzählungen meiner Mutter. Als Kind habe ich mich während der Bombardements unter dem Tisch versteckt. Mein Vater hat in einer Fabrik gearbeitet und war für deren Evakuierung zuständig. Deshalb konnten wir mit ihm nach Kasachstan flüchten. Es hat Monate gedauert, bis wir dort ankamen.

Die Evakuierung jetzt ist meine zweite. Dieses Mal war der einzige Gedanke, in Sicherheit zu sein. Wir haben von Verletzten und Toten in Kiew gehört und mussten fliehen. Es ist alles sehr spontan passiert. Als die Bomben fielen, habe ich mir große Sorgen gemacht. Das Haus hat durch die Explosionen gebebt, teilweise sind Granaten nur wenige Straßen weiter eingeschlagen. Ich hatte keinen Keller, keinen Bunker und hatte keine Kraft zu flüchten.

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„Zum Packen war kaum Zeit. Ich musste alles zurücklassen. Mein Gedanke war: Ich muss mein Leben retten!“ Tatyana Zhuraliova Tatyana Zhuraliova
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Als die Claims Conference angeboten hat, uns mit Krankenwagen zu evakuieren, habe ich gleich Ja gesagt. Alles war gut organisiert. Sie kamen direkt zu meiner Tür und haben mich bis zur Grenze gefahren. Zum Packen war kaum Zeit. Ich musste alles zurücklassen, habe nur meine Medikamente und ein paar Kleinigkeiten mitgenommen. Ich habe nicht gedacht, dass es lange dauert, ich lange fortbleiben muss.

Schon in der Ukraine wurden wir seit Jahren durch Hilfsorganisationen unterstützt. Ich erlebe Deutschland als Land, das helfen kann, ich habe nicht an den Zweiten Weltkrieg gedacht. Ich war mir sicher, dass Deutschland den Juden und anderen Leuten hilft. Als wir gehört haben, dass wir nach Frankfurt kommen, habe ich zugestimmt. Mein Gedanke war: Ich muss mein Leben retten!

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„Für ältere Leute wird es in der Ukraine noch lange unsicher sein.“ Tatyana Zhuraliova Tatyana Zhuraliova
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In meinen Augen ist Putin ein verrückter Mensch. Nicht mehr. Wie lange wir in Deutschland bleiben müssen, wird von der weiteren Situation abhängen. Für ältere Leute wird es in der Ukraine noch lange unsicher sein, das Leben wird schwer sein. Aber es besteht Hoffnung, dass die Ukraine gewinnt und die Souveränität behält. Ich würde gerne zurückkehren. Aber jetzt bin ich hier und werde gut umsorgt."

"Ich denke oft an meinen Enkel - er darf das Land nicht verlassen"

Larisa Dzuenko, Holocaust-Überlebende und Kriegsflüchtling aus Kiew

Ukrainische Holocaust-Überlebende im Frankfurter Altenheim der Budge-Stiftung

"Ich bin 1938 geboren und komme aus Kiew. Während des Zweiten Weltkriegs sind wir nach Usbekistan geflohen. Mein Vater ist im Krieg gestorben. Nur durch die Einladung meiner Oma konnten wir nach dem Krieg in die Ukraine zurückkehren. In Usbekistan war es schwer. Ich habe als Kind mit Ratten gekämpft, die mich beißen wollten. Und es gab Hunger. Wir haben dann von dem gelebt, was wir selbst anpflanzen konnten.

Später habe ich in einem Verlag gearbeitet. Als jetzt der Krieg in der Ukraine anfing, haben wir uns zu Hause in den Flur vor den Bomben geflüchtet. Dort ist es im Haus am sichersten. Es war eine sehr unangenehme Situation. Für die Möglichkeit der Evakuierung bin ich dankbar. Ich hatte während der Fahrt einen Arzt und eine Krankenschwester bei mir, die mich gespritzt haben. Ich habe Diabetes. Das war super.

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„Der Transport war gut - wenn man nicht darüber nachdenkt, dass es eine Flucht war. Ich kann nur Danke sagen.“ Larisa Dzuenko Larisa Dzuenko
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Berichte von geflüchteten Holocaust-Überlebenden aus der Ukraine

Ausgeschnittene Portraits zweier Frauen auf hellblauem Hintergrund.
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Ich habe nur Kleidung mitgenommen. Und Medikamente. Das ist alles. Und einen warmen Mantel. Doch den habe ich nicht gebraucht. Der Transport war nicht kalt. Die Rettungswagen waren hervorragend, wir haben auch mal gestoppt, sie haben mich an die frische Luft gebracht. Der Transport war gut - wenn man nicht darüber nachdenkt, dass es eine Flucht war. Ich kann nur Danke sagen.

Von der Unterkunft hier im Heim bin ich auch positiv überrascht. Wir bekommen warmes Essen, haben ein sauberes Zimmer, es ist gut. Es gab keine Wahl zwischen mehreren Ländern. Uns wurde Deutschland angeboten, und wir haben Ja gesagt. Dieses Land, das wir früher als Feind gesehen haben, hat uns geholfen.

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„Dieses Land, das wir früher als Feind gesehen haben, hat uns geholfen. Es ist gut, zu Gast zu sein, aber zu Hause ist es am schönsten.“ Larisa Dzuenko Larisa Dzuenko
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Ich denke oft an Zuhause. Mein Enkel ist 25 Jahre alt, er durfte das Land nicht verlassen. Dabei ist er noch so jung. Er ist jetzt in der Westukraine, lernt zu schießen und am Krieg teilzunehmen. Ich habe sehr viel Schmerz in der Seele, denn er ist mir sehr wichtig. Aber was kann ich tun, wir leben in schwierigen Zeiten. Ich möchte, wenn es geht, wieder nach Hause. Zu Hause fühlt man sich am wohlsten. Es ist gut, Gast zu sein, aber zu Hause ist es am schönsten."

Protokolle: Caroline Nützel

Hinweis: Tatyana Zhuraliova und Larisa Dzuenko, die hier zu Wort kommen, sind nach Angaben der Jewish Claims Conference offiziell als Holocaust-Überlebende anerkannt. Als solche wurden sie explizit aus der Ukraine geholt. In einem FAQ der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem wird der Begriff enger gefasst: Als Überlebender des organisierten Judenmords durch die Nationalsozialisten gelte, wer unter deren Terrorherrschaft lebte und überlebte - nicht aber Juden, die aus ihrer Heimat wegen des deutschen Angriffskriegs flüchteten. Womöglich liegt auf der Seite aber ein Fehler vor. Auf Rückfrage versicherte eine Sprecherin der Jewish Claims Conference, man teile mit Yad Vashem dieselbe Auffassung: Holocaust-Überlebender sei, wer die Verfolgung der Juden durch die Nazis überlebte, egal ob in einem besetzten oder angegriffenen Gebiet.

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