Visualisierung der Idee: In der Straße zwischen Wohnhäusern sind viele Menschen und Pflanzen - und keine Autos - zu sehen.

Weniger Platz für Autos, mehr Platz für Menschen: Im Rahmen eines Verkehrsversuchs wagt sich Darmstadt als erste hessische Stadt an die Umgestaltung eines bestehenden Wohnareals in ein autoarmes Quartier. Das Modell könnte landesweit Schule machen.

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Darmstadt erprobt autoarmes Bestandsquartier

Wie hier in der Wenckstraße sind die kleinen Straßen und Gassen in den Darmstädter Gründerquartieren fast ausnahmslos an beiden Seiten zugeparkt. Selbst Teile der schmalen Bürgersteige werden von parkenden Autos in Anspruch genommen.
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Das Johannesviertel und das Martinsviertel gehören zu den beliebtesten Wohnquartieren in Darmstadt. Kein Wunder, denn mit ihren historischen Altbauten aus der Gründerzeit, ihren kleinen Gassen und vielen Plätzen schaffen sie eine ganz besondere Atmosphäre. Speziell bei Familien liegt diese Ecke von Darmstadt hoch im Kurs.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Die Gassen sind an beiden Seiten zugestellt mit parkenden Autos, Fahrzeuge kreisen unentwegt um die Wohnblöcke, entweder auf der Suche nach einer der spärlichen Parklücken oder beim Versuch, den Stau auf angrenzenden Hauptverkehrsadern zu umgehen. Die Verkehrssituation in den Vierteln ist – milde ausgedrückt – äußerst angespannt. Man könnte sie auch als katastrophal bezeichnen.

"Mehr Flächen-Gerechtigkeit"

Das soll sich künftig ändern, zumindest in einem Teil der Gründerquartiere. "Die Stadt beabsichtigt die Erprobung eines autoarmen Bestandsquartiers", bestätigt Darmstadts Mobilitätsdezernet Michael Kolmer (Grüne) im Gespräch mit dem hr. So steht es auch im Koalitionsvertrag von Grünen, CDU und Volt.

Aber was zeichnet ein "autoarmes Quartier" überhaupt aus? Wie der Begriff schon sagt, soll es ärmer an Autos werden. Das bedeutet, dass Flächen, die derzeit noch von Fahrzeugen belegt werden, gerechter an alle Nutzer und Nutzerinnen des öffentlichen Raums verteilt werden sollen. Konkret heißt das: mehr Platz für Fußverkehr, Radverkehr und Freizeitaktivitäten – wie etwa Spielplätze, Gastronomie oder einfach Raum zum Entspannen. Oder wie es Kolmer ausdrückt: "Mehr Flächen-Gerechtigkeit für mehr Lebensqualität."

Bei neu geplanten Wohnvierteln seien solche Konzepte mittlerweile eher die Regel, bei bestehenden Quartieren allerdings eine große Herausforderung. Dieser Herausforderung will sich Darmstadt nun stellen.

Welches Quartier sich glücklich schätzen darf, als Schauplatz für das Pilotprojekt zu dienen, ist noch nicht endgültig beschlossen. Doch alle Anzeichen deuten auf den Block rund um den Lichtenbergplatz im Martinsviertel hin. Kolmer will das zwar nicht bestätigen, dementieren aber auch nicht. Ganz im Gegenteil: "Der Lichtenbergblock ist ohne Zweifel sehr gut für solch einen Verkehrsversuch geeignet", sagt er.

Barcelona als Vorbild

Viel Platz für Fuß- und Radverkehr: Eine umgestaltete Straße in einem Superblock in Barcelona.

Als Vorbild dient der Stadt dabei das "Superblock"-Konzept aus Barcelona, das die spanische Stadt 2016 im Rahmen eines Plans für nachhaltige Mobilität entwickelt hat. Der erste Superblock wurde nach Angaben der spanischen Metropole nur ein Jahr später im Stadtviertel Poble Nou eingeführt.

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Superblocks in Barcelona

In den Superblocks in Barcelona werden bis zu neun bestehende Häuserblocks zusammengefasst. Innerhalb der Blocks haben Fuß- und Radverkehr Vorrang. Bei zweispurigen Straßen wird eine Spur weggenommen und etwa für Spielgelegenheiten, Gastronomie oder Parkbänke zur Verfügung gestellt. Hochbeete, Blumenkübel und Bäume sorgen für mehr grün und eine einladendere Atmosphäre. Autos dürfen innerhalb der Blöcke höchstens 20 km/h fahren. Insgesamt sollen 503 solcher Blocks entstehen. Nach Angaben der Stadt würden somit 60 Prozent der zuvor von Autos genutzten Straßen frei werden.

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Bei der Umgestaltung historisch gewachsener Wohnquartiere komme vor allem der Parkraumbewirtschaftung eine zentrale Rolle zu, erklärt Kolmer. Ziel sei es vorranging, vorhandene Autos aus dem öffentlichen Raum auf private Flächen zu verdrängen. Die Stadt hat bereits beschlossen, dass es ab Sommer 2023 in den Gründerquartieren keine kostenlosen Parkmöglichkeiten mehr geben soll, Anwohnerinnen und Anwohner haben dann die Möglichkeit, einen Parkausweis für 120 Euro im Jahr zu erwerben.

Parkraumbewirtschaftung als wichtiger Bestandteil

"Erfahrungsgemäß führt eine solche Parkraumbewirtschaftung dazu, dass etwa zehn Prozent der Autos aus dem öffentlichen Raum verschwinden, weil private Parkmöglichkeiten, etwa in Hinterhöfen oder Garagen, wieder besser genutzt werden." Die Stadt sei zudem auf der Suche nach noch mehr bestehenden Quartiersgaragen, die als Parkmöglichkeit genutzt werden können, sagt Kolmer. Im Lichtenbergblock gebe es solche Garagen bereits.

Die freigewordenen Flächen könnten dann im nächsten Schritt verwendet werden, um Mobilität grundsätzlich neu zu organisieren und Alternativen zum Auto aufzubauen. "Dann steht mehr öffentlicher Raum zur Verfügung, mit dem man dann in einem solchen Versuch arbeiten kann, zum Beispiel für Car-Sharing oder Bike-Sharing und auch für Lastenräder. Auch der öffentliche Nahverkehr spielt eine Rolle."

Autoarme Quartiere sind keine autofreien Quartiere

Auf diese Weise würden Bewohner und Bewohnerinnen in ihren Quartieren Lebensqualität gewinnen, zudem könnten sie und ihre Kinder sich sicherer im öffentlichen Raum bewegen – und all das, ohne gänzlich auf das Auto verzichten zu müssen. "Wir reden explizit nicht über autofreie Quartiere", betont Kolmer. Wer zwingend auf sein Auto angewiesen sei, könne es auch weiterhin nutzen.

Zu den Ansprechpartnern der Stadt gehört auch die Bürgerinitiative "Heinerblocks", die sich mit alternativen Mobilitätskonzepten in Darmstadt befasst. "Wir begrüßen die Pläne der Stadt ausdrücklich", sagt Aktivist Maximilian Keiner. Der Elektrotechnik-Student hat sich zusammen mit den anderen Mitgliedern bereits konkrete Gedanken um die Umsetzung im Lichtenbergblock gemacht.

Die Initiative Heinerblocks hat ein Verkehrskonzept für den Lichtenbergblock ausgearbeitet.

Um etwa den Durchgangsverkehr aus dem Quartier fernzuhalten, bedürfe es eines Einbahnstraßen-Systems, das Pendler und Pendlerinnen immer wieder direkt auf die Hauptverkehrsstraßen zurückführt. Mittels sogenannter Diagonalsperren könne der Straßenverkehr zusätzlich beruhigt und weiterer Platz für den Fußverkehr geschaffen werden.

Das lasse sich alles schnell und unkompliziert durch temporäre Maßnahmen umsetzen, wie etwa durch das Aufstellen von Blumenkübeln oder anderen Verkehrshindernissen. "Ziel ist es, dass im Quartier nur noch der absolut notwendige Autoverkehr stattfindet", erklärt Keiner.

Darmstädter Modell könnte Schule machen

Heinerblocks würde am liebsten direkt loslegen, die Stadt will den wissenschaftlich begleiteten Verkehrsversuch aber frühestens im Sommer 2023 starten, wenn auch die neue Parkraumbewirtschaftung eingeführt wird. Bis dahin wolle man mit Bürgern und Bürgerinnen den Dialog über die konkrete und möglichst konfliktfreie Umsetzung suchen. "Bei einem solchen ersten Verkehrsversuch soll und muss wirklich alles gut funktionieren, wenn er eine gewisse Vorbildwirkung für andere Städte in Hessen oder Deutschland haben soll", sagt Dezernent Kolmer. Kolmer geht davon aus, dass der Versuch mindestens ein Jahr dauern wird, aber das müsse der Magistrat noch beschließen.

Bislang ist der Darmstädter Verkehrsversuch der einzige seiner Art in Hessen. Aber er könnte durchaus Schule machen. In Wiesbaden etwa gab es zuletzt auf Anregung des Jugendparlaments einen "Superblock"-Sonntag, in dessen Rahmen drei Quartiere für einen Tag zu autofreien Quartieren umgestaltet wurden. In Volksfest-Manier hätten rund 10.000 Menschen auf den Straßen gefeiert, gegessen und gespielt, teilte die Stadt auf Anfrage mit. Konkrete Pläne für permanente Superblocks gebe es derzeit zwar nicht, allerdings erklärt die neue Stadtregierung aus Grünen, SPD, Linken und Volt in ihrem Kooperationsvertrag ausdrücklich die Absicht, "geeignete Quartiere" in Superblocks umwandeln zu wollen.

Hoffung in Wiesbaden

Alexander Mehring, Vorsitzender des Vereins "Wiesbaden neu bewegen", der aus der mittlerweile gescheiterten Initiative "Pro Citybahn" hervorging, glaubt deswegen, dass das Thema nun auch in der Stadtpolitik einen höheren Stellenwert besitzt. "Das stimmt uns hoffnungsvoll, dass sich in den nächsten Monaten und Jahren in Wiesbaden etwas tut."

Konkrete Planungen für einen Superblock gibt es auch in Kassel nicht. Die Grundausrichtung geht jedoch in dieselbe Richtung: "Unser Ziel ist, eine Verkehrspolitik zu betreiben, die vom Menschen und nicht dem Auto aus gedacht ist. Das ist in der autogerecht geplanten Nachkriegsstadt Kassel ein großes Unterfangen", skizziert ein Sprecher der Stadt auf Anfrage die Herausforderungen der Mobilitätsplanung in bestehenden Strukturen.

In Frankfurt wird dieser Tage das nördliche Mainufer erneut für eine 13 Monate andauernden Verkehrsversuch für Autos gesperrt. Pläne für die Gestaltung autoarmer Bestandsquartiere gebe es derzeit aber keine. "Da ist uns Darmstadt tatsächlich einen Schritt voraus", sagte ein Sprecher des Stadtplanungsamts. Man werde das Darmstädter Projekt aber mit großem Interesse verfolgen und sich gerne inspirieren lassen.

Eine Schablone, die sich problemlos auf andere Städte anwenden lässt, werde der Darmstädter Verkehrsversuch aber nicht produzieren. Darin sind sich Stadt und Aktivisten einig. Zu individuell sei die Situation in den verschiedenen Quartieren, zu einzigartig die jeweilige Straßenführung. "Es kann aber durchaus ein Muster ergeben, das in einer gewissen Vergleichbarkeit auch in anderen Städten angewendet werden kann", hofft Dezernent Kolmer. Gerne auch in der eigenen Stadt, wie er in Aussicht stellt. "Vielleicht treten wir ja eine Wellenbewegung los."

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