Neala im Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern

Miteinander reden, sich Kennenlernen und Vorurteile abbauen - das ist das Anliegen von "Meet a Jew". Junge Juden und Jüdinnen kommen in Schulen oder Sportvereine und erzählen aus ihrem Leben. Neala hat sich den Fragen einer christlich und muslimisch geprägten Berufsschulklasse in Darmstadt gestellt.

Videobeitrag

Video

"Meet a Jew" - Jüdin redet mit Schülern in Darmstadt

hs_100323
Ende des Videobeitrags

Die Schülerinnen und Schüler der 11. Klasse an der Friedrich-List-Berufsschule in Darmstadt sitzen im Stuhlkreis, die Stimmung ist angespannt, kaum jemand spricht - was ungewöhnlich ist für eine Gruppe Heranwachsender zwischen 16 und 20 Jahren. Das liegt vielleicht an den Kameras und Mikrofonen der Journalisten, in erster Linie aber wohl daran, dass viele der Schülerinnen und Schüler gleich zum ersten Mal in ihrem Leben einem jüdischen Menschen begegnen. Sie wissen nicht, was sie erwartet.

"Wenn ich an Juden denke, dann denke ich immer an Männer mit Zöpfen und so Hüten", sagt eine Schülerin. Das habe sie irgendwo einmal im Fernsehen gesehen. Die meisten sagen gar nichts. Neala ist kein Mann, Zöpfe und Hut trägt sie auch nicht. Aber sie ist Jüdin - was man nicht erkennen würde, würde man der 20-jährigen Jura-Studentin auf der Straße begegnen.

Für manch einen mag das als Selbstverständlichkeit erscheinen, für größere Teile der Gesellschaft offenbar nicht. Auch deswegen ist Neala heute im Rahmen des Programms "Meet a Jew", das vom Zentralrat der Juden angeboten wird, nach Darmstadt gefahren.

Ein zugegebenermaßen gewöhnungsbedürftiger Name für solch ein Programm. "Es klingt ein bisschen nach Zoo, so als würde man sich einen Juden bestellen, den man dann von oben bis unten anschauen kann", sagt auch Neala. Sie hätte sich einen anderen Namen gewünscht, auch wenn er den Vorgang ganz gut beschreibt.

Alles darf, nichts muss

Wichtiger als der Name ist aber das Konzept, das dahinter steckt, und das ist ein ganz anderes. Es geht um Begegnungen auf Augenhöhe. In Schulen und Sportvereinen erzählen Freiwillige jüdischen Glaubens aus ihren Leben und von ihrer Religion.

Weitere Informationen

Was steckt hinter "Meet a Jew"?

"Meet a Jew" ist ein Projekt des Zentralrats der Juden und wird gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesprogramms "Demokratie leben!" In persönlichen Begegnungen wollen Jüdinnen und Juden Einblicke in das jüdische Leben in Deutschland geben. Die Begegnungen können über die Internetseite angefragt werden und sind kostenlos.

Ende der weiteren Informationen

In Darmstadt steht Neala, die seit 2017 Teil von "Meet a Jew" ist, vor einer Klasse, die vornehmlich aus Muslimen und Christen besteht. "Ihr könnt mich alles fragen, auch wenn Euch die Frage vielleicht blöd vorkommt", sagt sie zu Beginn der Gesprächsrunde. Alles darf, nichts muss.

Koschere Gummibärchen mitgebracht

Und die Schülerinnen und Schüler haben Fragen: Viele drehen sich um das Essen, Alkohol, religiöse Regeln und die Rolle der Frau - vor allem im Vergleich zum Islam. Neala hat koschere Gummibärchen mitgebracht, die gleichzeitig auch halal sind, deswegen von Juden und Muslimen gleichermaßen gegessen werden dürfen.

Nach wenigen Minuten sind die fünf Packungen aufgegessen. Auch in anderen Bereichen, etwa dem Stellenwert des Fastens oder bei Beerdigungen, finden die Anwesenden große Schnittmengen zwischen Islam und Judentum

Die Fragen drehen sich aber auch um weltliche Dinge, etwa ob Neala einen Freund haben darf. Hat sie, sogar einen Christen, wie sie erzählt, was ihrer Mutter schon einiges Kopfzerbrechen bereitet habe. Die Shoa und der Nahostkonflikt kommen auch zur Sprache.

Austausch unter Jugendlichen

Anfangs kommen die Fragen noch zögerlich. Neala beantwortet alle offen und ausführlich. So ist das Eis schnell gebrochen. Es entwickelt sich ein Austausch unter Jugendlichen, sie sprechen eine gemeinsame Sprache, vieles ist "nice", einiges auch "cringe". Sie kommen ins Plaudern, reden auch über Themen, die nichts mit Religion zu tun haben. Es herrscht eine gelöste Atmosphäre, die anfängliche Anspannung ist gewichen.

Eine Frage bringt Neala dann doch etwas aus dem Konzept: "Fühlst Du Dich wohl als Jüdin?", will eine Schülerin wissen. Neala muss etwas überlegen, bevor sie die Frage dann doch mit einem klaren "Ja" beantwortet. Später sagt sie dazu: "Für mich ist es selbstverständlich, dass ich mich als Jüdin wohlfühle. Aber die Frage hat mir klar gemacht, dass es das für andere nicht ist."

Sprüche über vergaste Juden gehört

Im Zuge dessen spricht sie vor der Klasse auch über ihre Erfahrungen mit Antisemitismus und Diskriminierung. Strukturellen Antisemitismus, etwa bei Wohnungs- oder Jobsuche, habe sie in Deutschland noch nicht erfahren, dafür aber "Straßenantisemitismus", wie sie ihn nennt.

In der Oberstufe hätten Mitschüler Sprüche über brennende und vergaste Juden gemacht. Auf einer Touristenführung in Ungarn bekam sie als Begründung für hohe Eintrittspreise in die Synagoge zu hören, Juden seien halt gierig. Das habe ihr schon sehr zugesetzt.

Botschafterin des jüdischen Lebens

Aber Neala sieht sich in erste Linie als Botschafterin des lebendigen jüdischen Lebens in Deutschland, nicht so sehr als Kämpferin gegen Antisemitismus. Dennoch gehöre beides irgendwie zusammen. "Vorurteile und Diskriminierung entstehen, weil viele gar nicht wissen, wie wir Juden überhaupt leben. Viele sind in ihrem Leben noch nie einem begegnet", sagt sie.

Die Wahrscheinlichkeit, im Alltag in Kontakt mit jüdischen Menschen zu kommen, sei nun einmal gering. Es gebe schlicht wenige in Deutschland. 2021 waren bundesweit gerade einmal rund 92.000 Jüdinnen und Juden in 106 jüdischen Gemeinden organisiert.

Zum Vergleich: Laut einer Hochrechnung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge aus dem Jahr 2019 leben etwa 5,6 Millionen Muslime in Deutschland. Und weil es so wenig Juden in Deutschland gibt, müsse man eben aktiv auf die Menschen zugehen, um Vorurteile gar nicht erst entstehen zu lassen, sagt Neala.

Religionslehrerin hat Treffen organisiert

Das war auch das Anliegen von Religionslehrerin Ulrike Hinkel, die das Treffen organisiert hat. "Wir haben hier sehr wenige jüdische Schülerinnen und Schüler, deswegen gibt es im Alltag fast keine Möglichkeiten des Kennenlernens." Eben diese Möglichkeit wollte sie schaffen und hat sich an "Meet a Jew" gewandt.

In der Schule werde oft nur in der Vergangenheit und im Zusammenhang mit dem Holocaust über Juden geredet. "Das Judentum ist aber eine sehr lebendige Religion, die selbstverständlich zu Deutschland gehört", sagt die evangelische Pfarrerin.

Begegnung auf Augenhöhe

Die Reaktionen auf die Ankündigung des Treffens mit einem jüdischen Menschen sei in der Schülerschaft gemischt gewesen. Viele hätten Vorfreude und Interesse gezeigt. Aber auch Anspannung und Nervenkitzel seien spürbar gewesen, erklärt Hinkel. Davon war nach der Veranstaltung nichts mehr zu spüren.

"Wir haben viel gelacht und uns besser kennengelernt", sagt der 23-jährige Rostan, der zwar nicht zur Klasse gehört, sich aber aus Eigeninteresse der Gruppe angeschlossen hat. Die 19-jährige Muslimin Halina - und so geht es vielen an diesem Nachmittag - ist vor allem überrascht, "wie viele ähnliche Punkte wir im Islam und Judentum haben", das sei ihr vorher nicht klar gewesen.

In einem sind sich alle einig: Die Begegnung von Angesicht zu Angesicht und der offene Austausch auf Augenhöhe trägt mehr zum gegenseitigen Verständnis bei als es Bücher, Filme oder Vorträge jemals könnten.

"Es ist enorm wichtig, sich offen und ohne Wände oder Hindernisse begegnen zu können", findet auch Neala. Und deswegen macht sie sich zusammen mit den anderen Freiwilligen von "Meet a Jew" auch in Zukunft gerne auf den Weg, wenn sie gerufen wird.

Weitere Informationen Ende der weiteren Informationen