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Lange Traumabewältigung nach dem rassistischen Anschlag in Hanau

Sozialarbeiterin Antje Heigl steht mit Boxhandschuhen in einer Sporthalle neben einem Boxsack

Ganz in der Nähe eines der Tatorte des rassistischen Anschlags in Hanau befindet sich ein beliebtes Jugendzentrum. Wie sehr die Jugendlichen die Tat traumatisiert hat und wie ihnen auch der Boxsport beim Verarbeiten hilft, erzählt Sozialarbeiterin Antje Heigl im Interview.

Antje Heigl arbeitet als Sozialarbeiterin, Kinder- und Jugendtherapeutin und Boxtrainerin im Jugendzentrum (JUZ) in Hanau-Kesselstadt. Seit dem rassistischen Anschlag vom 19. Februar 2020, bei dem ein Mann neun Menschen aus Zuwandererfamilien tötete, hat sich dort vieles geändert.

hessenschau.de: Frau Heigl, Sie bezeichnen sich als "Weltenspaziergängerin" - was meinen Sie damit?

Antje Heigl: Dieser Stadtteil verbindet viele verschiedene Welten. Sowohl, wie er gebaut ist, als auch von den Bewohnerinnen und Bewohnern her. Ich selbst bin eher in einer - nach außen hin -bürgerlichen Familie im Einfamilienhaus aufgewachsen. Gleichzeitig ist es in der Weststadt so, dass diese Einfamilienhäuser neben Baugesellschaftswohnungen und auch Hochhauskomplexen liegen. Ich war als Jugendliche sehr viel auf der Straße und hatte auch in der Schule eher Freunde, die aus einem anderen sozialen Milieu kamen. Das hat mich sehr geprägt.

Eingang zum Juz k.town in Hanau-Kesselstadt

hessenschau.de: Und Sie waren als Mädchen auch schon hier im JUZ.

Heigl: Ich bin aufs Gymnasium gekommen, habe mich aber in meinen Klassen eigentlich nie so wohl und aufgehoben gefühlt. Meine Freunde stammten eher aus den Hochhäusern rund um den Kurt-Schumacher-Platz. Sie haben eher die Haupt- oder Realschule besucht. In den Cliquen-Strukturen habe ich mich wohlgefühlt. Das waren die Jugendlichen, die ins JUZ gegangen sind.

Als Jugendliche war ich regelmäßig hier. Dann habe ich angefangen zu studieren, habe mich politisch engagiert und bin über mein Studium der Sozialarbeit wieder hier gelandet.

hessenschau.de: Das JUZ liegt ganz in der Nähe der Arena-Bar, wo der rassistische Attentäter am 19. Februar 2020 gezielt sechs Menschen erschossen hat. Viele von ihnen sind hier ein- und ausgegangen. Nach dem Anschlag ist von einem Tag auf den anderen alles anders geworden.

Heigl: Viele haben eine gute Kindheitserinnerung an diesen Ort. Wenn man sich vorstellt, dass alle vier bis fünf Jahre so eine Generation ins Erwachsenenalter eintritt, kann man sich vorstellen, wie viele Generationen von Jugendlichen in Hanau schon durch dieses Haus geprägt worden sind.

Der 19. Februar 2020 - der übrigens das Schlimmste war, was ich beruflich, aber auch privat in meinem Leben bisher erlebt habe - hat diesen Ort in einer Art und Weise geprägt, die viele noch nicht verarbeitet haben. Dieser Ort, der vorher mit positiven Erinnerungen verbunden war, steht jetzt auch für diesen rassistischen Mordanschlag.

hessenschau.de: Sie haben Tränen in den Augen, während Sie das sagen - das scheint Sie sehr zu bewegen.

Heigl: Ja, das ist so. Das Leben geht irgendwie weiter. Aber das war ein prägendes Ereignis, das nicht einfach vorübergeht.

hessenschau.de: Mittlerweile sind zweieinhalb Jahre vergangen. Wie geht es den Jugendlichen, die heute zu Ihnen hierher kommen?

Heigl: Man kann nicht grundsätzlich sagen, dass es ihnen jetzt besser oder schlechter geht. So wie sie es beschreiben, ist es so, dass es immer wieder aufploppt. Es gibt zwei Gefühlsebenen. Das eine ist die Sehnsucht nach einem Stück Normalität. Wir fördern das, indem wir versuchen, wieder die schönen Dinge hier zu machen.

Gleichzeitig ist es allen ein Anliegen, dass die Menschen, die sinnlos gestorben sind, nicht vergessen werden dürfen und dass aufgeklärt werden muss.

Eine Gedenkstele mit Bilder der Getöteten steh am Jugenzentrum in Hanau mit der Inschrift: „Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst“, „Rassismus tötet überall“, „In Erinnerung an Euch werden wir die Zukunft gestalten“.

Schwierig ist: Jeder ist in unterschiedlicher Weise betroffen. Es gibt Menschen hier, die haben Geschwister verloren. Es gibt Menschen, die haben diesem Mörder in die Waffenmündung gesehen. Es gibt Menschen, die sind selbst verletzt worden. Und es gibt ganz viele, die haben ihre Freunde verloren an diesem Tag oder waren zufällig an diesem Abend mal nicht da.

Was nicht förderlich ist für die Gefühlswelt: Der Vater des Attentäters lebt in dieser Straße. Es vergeht kaum ein Tag, an dem es nicht eine Begegnung gibt. Das ist kein Mensch, der sich zurückzieht, sondern nach meinem Empfinden die Konfrontation sucht. In diesem Stadtteil gibt es auch sehr viel Polizeipräsenz. Das ist für Jugendliche oft ein Problem, weil sie gar nicht wissen, wer da wen beschützt. Es gibt da ganz viele ungute Situationen.

hessenschau.de: Wie können Sie helfen?

Heigl: Wir versuchen, für die jungen Leute da zu sein und mitzukriegen, was sie jetzt brauchen. Wir bieten Gespräche an, aber auch Jugendfreizeit, Gemeinschaft, Versorgung. Hier ist jeder erst einmal willkommen und findet ein Nest.

hessenschau.de: Das Boxen spielt hier auch eine große Rolle. Sie haben ein Box-Gym im JUZ, Sie selbst sind mittlerweile Box-Trainerin. Weshalb ist das so wichtig für die Jugendarbeit hier?

Heigl: Es ist etwas, wofür sich viele Jugendliche interessieren. Es bietet auch den Rahmen, Aggressionen rauszulassen. Aggressionen sind ja eher negativ konnotiert, ob in der Schule oder im Kindergarten. Beim Boxen darf man auch mal was rauslassen. Dann ist es nichts Negatives mehr. Wenn man gut boxen kann und stark ist, kriegt man plötzlich ein Lob dafür.

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Ermordet am 19. Februar 2020 in Hanau

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hessenschau.de: Verändert das Boxen die Mädchen und Jungen, die hier trainieren?

Heigl: Ja. Beim Boxen kann man sich nicht verstecken. Man lernt sich selbst gut kennen, stellt sich seinen Stärken und Schwächen und muss sie auch selbst verantworten. Man kann sich nicht hinter einem Team oder großen Tönen verstecken, sondern muss zeigen, was man kann.

Das ist sehr lehrreich und hat den Effekt, dass die Leute der Trainingsgruppe sich untereinander kennen lernen und dazu stehen müssen, wie sie sind. Dort angenommen zu werden, auch mit seinen Schwächen, verbindet ungemein.

hessenschau.de: Baut man dadurch auch außerhalb des Sports Werte fürs Leben auf?

Heigl: Ich glaube, dass man sie mitnimmt. Alle trainieren mindestens zweimal die Woche, manche bis zu fünfmal. Der Umgang miteinander, der gegenseitige Respekt, den man dort automatisch aufbaut, und die Selbstdisziplin, die man entwickeln muss, all das prägt.

hessenschau.de: Welche Rolle spielt das Boxen beim Verarbeiten des Anschlags? Hilft es beim Trauern?

Heigl: Ja, nach dem Anschlag waren wir zunächst alle wie erstarrt. Unser erstes Training, fünf Tage danach, war gespenstisch. Normalerweise läuft hier laut Musik, damals hat man nur die Atmung und die Schläge auf die Sandsäcke gehört. Wir haben auch keine Partnerübungen gemacht, sondern nur diese ganze Anspannung nach draußen transportiert. Die Möglichkeit, körperliche Entspannung herzustellen, haben wir genutzt.

hessenschau.de: Nach dem Anschlag ist Ihre Arbeit noch wichtiger für die Menschen im Stadtteil geworden. Fühlen Sie sich von der Politik genügend unterstützt?

Heigl: Es ist eine ganz andere Aufmerksamkeit für diese Arbeit entstanden. Wir haben eine vierte Stelle zurückbekommen, die zwischenzeitlich gestrichen worden war. Die bringt uns unglaublich viel und wird bis 2025 vom Land Hessen finanziert. Ich hoffe, dass es auch darüber hinaus geht.

Dann haben wir noch über das Bundesprojekt "Demokratie leben" eine weitere pädagogische Mitarbeiterin und eine Verwaltungskraft bekommen. Da haben wir aber einen zusätzlichen Arbeitsauftrag. Denn der Abriss dieses Gebäudes ist beschlossen. Nun geht es darum, eine vernünftige Alternative, einen Ort unter Beteiligung der Jugendlichen zu finden.

Das Gespräch führte Mariela Milkowa.

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