Analyse Corona-Inzidenzen: Steigt jetzt nur noch die Dunkelziffer?

Omikron, die hoch ansteckende Virenmutante, breitet sich weiter aus. Trotzdem könnte der Anstieg der Inzidenz-Zahlen bald zum Stillstand kommen: Die PCR-Testkapazität nähert sich ihrer Grenze - und damit auch die theoretisch überhaupt messbare Inzidenz.
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PCR-Tests und Inzidenz

Die Omikron-Welle bringt die PCR-Testlabore in ganz Deutschland an ihre Grenzen. Laut Branchenverband ALM war die Testkapazität in Deutschland in der vergangenen Woche zu 86 Prozent ausgelastet - unter den rund 2 Millionen in den ALM-Laboren durchgeführten Tests waren 486.319 positive, entsprechend einer Inzidenz von um die 600.
Mit der verbliebenen Testkapazität von 14 Prozent hätte man also etwa weitere 80.000 positive Fälle finden können - oder anders gesagt: eine maximale Inzidenz von etwa 700 messen. Auch wenn die Labore ihre Kapazität in dieser Woche nochmals steigern können: Bei einer bundesweiten Inzidenz 750 wäre bei der derzeitigen Positiv-Rate rechnerisch Schluss. Mehr könnte man nicht messen.
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In Hessen ist die Situation zugleich ein wenig besser und dramatischer als im Rest der Republik: Hessen hat im Verhältnis mehr Laborkapazität. Die Auslastung der Labore lag zuletzt bei nur rund 70 Prozent, während sie beispielsweise in Hamburg um das Anderthalbfache über der Kapazität liegt. Zugleich ist die Inzidenz in Hessen bereits höher als im Bundesdurchschnitt, da sich die Omikron-Fallzahlen derzeit jede Woche etwa verdoppeln, wird auch diese Grenze nächste Woche erreicht.
Im Winter vergangenen Jahres gerieten die Labore bereits schon einmal an die Kapazitätsgrenzen, es gab einen Rückstau von zehntausenden Proben. Auch wenn es Gesundheitsämtern und Ärzten gelang, noch ein Labor mit freien Kapazitäten zu finden, stiegen die Wartezeiten.
Nur jede vierte Infektion wird entdeckt und gemeldet
Die Corona-Statistik wird also zunehmend ungenauer, die Dunkelziffer wird steigen. Jan Mohring, Mathematiker am Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik beschäftigt sich mit dieser Dunkelziffer. Ein gemeldeter Corona-Fall setzt einen positiven PCR-Test voraus. Getestet wird vor allem bei Corona-Verdacht aufgrund von Symptomen oder Kontakt mit einer nachweislich infizierten Person, ein Großteil der Infektionen ohne Symptome wird gar nicht gezählt.
Mit einem statistischen Verfahren, das die fehlenden Daten aus der Entwicklung der Krankheits- und Todesfälle schätzt, berechnet Mohring die Dunkelziffer - beziehungsweise ihr Gegenstück, die Erkennungsrate. Er schätzt sie im Mittelwert auf etwa ein Viertel - und beobachtet, wie sie vor allem mit den Schulferien schwankt: "Zuletzt hatten wir zwischen 20 und 40 Prozent Erkennungsrate beobachtet."
Die PCR-Testkriterien
Die Nationale Teststrategie versucht, die Auslastung der Labore durch klare Prioritäten zu begrenzen. PCR-Tests werden in dieser Reihenfolge priorisiert:
- Personen mit Symptomen - unabhängig vom Impf- oder Genesenenstatus
- Menschen, die mit Infizierten in engen Kontakt gekommen sind - und Mitarbeiter:innen im Gesundheitswesen und Patient:innen
- Alle anderen Verdachtsfälle und Tests aus Vorsicht
Den Laboren reicht das nicht - in Reaktion auf einen Referentenentwurf, der die Test-Priorität anpassen will, um Freitestung benötigter Arbeitskräfte zu ermöglichen, fordern sie, die Tests stärker zu beschränken, in den Krankenhäusern etwa auf Pflegekräfte, die nach einer Corona-Infektion für den Dienst freigetestet werden sollen. Diese Entscheidung müsse getroffen werden, bevor überhaupt Proben entnommen werden, damit die Labore nicht überwältigt werden.
Mit PCR-Tests entdeckte Fälle retten Leben
Mathematiker Mohring sagt: PCR-Tests sind gut, um die Entwicklung der Pandemie zu verfolgen - vor allem helfen sie aber, das Virus auszubremsen. "Wenn man infiziert ist, hat man nach der Inkubationszeit eine gewisse Zeit, in der man andere ansteckt. Wenn man in dieser Zeit - sagen wir fünf Tage - nicht entdeckt wird, steckt man andere Leute an. Wenn ich aber nach zwei Tagen entdeckt werde, dann stecke ich statt an fünf Tagen nur an zwei Tagen andere Menschen an." Darüber werde die Ansteckungsrate erheblich reduziert.
Unterbrochene Infektionsketten, dadurch geringere Ansteckungsraten, weniger schwere Fälle - und weniger Tote: Mohring hat den Effekt durchgerechnet und kommt zu dem Schluss, dass ein Verzicht auf Nachverfolgung mit Tests bis April eine um 20 Prozent höhere Zahl an Corona-Toten zur Folge hätte.
Das RKI justiert nach
Die Tests seien weniger ein Messinstrument als ein Mittel, mit dem die Gesundheitsämter die Ausbrüche vor Ort zu beherrschen versuchen, heißt es auch beim Robert-Koch-Institut (RKI): Ob an einem Tag nun 100.000 oder 110.000 Fälle gezählt werden, sei letztlich nicht entscheidend.
Um die Pandemie einschätzen zu können, setzt das RKI auf neue Instrumente. Ab Donnerstagabend wird einmal wöchentlich die "Inzidenzschätzung symptomatischer Erkrankungen" angegeben - sie stützt sich nicht auf die Fallmeldungen, sondern auf Corona-Fälle mit Krankheits-Symptomen.
Auch die Daten aus den Krankenhäusern werden wichtiger, zum Beispiel die Zahl der Corona-Intensivpatienten und die Hospitalisierungsinzidenz.
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Kann man sinkenden Inzidenz-Zahlen trauen?
Die Inzidenz-Zahlen mögen ungenauer werden, ihre Bedeutung als Trend-Indikator werden sie behalten - auch wenn Vorsicht angesagt ist, wenn die Kurve abflacht. Derzeit ist das in dem Bundesland der Fall, das die höchsten Inzidenzen meldet: Bremen.
Hat Bremen also das Schlimmste überstanden - oder sind nur die Kapazitäten der Labors und Gesundheitsämter erschöpft? Experten beim RKI schätzen, dass im kleinen Bremen das Omikron-Virus tatsächlich so viele Menschen angesteckt hat, dass es sich nicht mehr mit gewohnter Geschwindigkeit ausbreiten kann.
Letztlich wird nur die Entwicklung der Fälle mit Symptomen Klarheit bringen können - denn wenn sich die Inzidenz-Kurve abflacht, ist das allein kein Grund zur Entwarnung.