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Jeder zweite Bahnhof nicht barrierefrei

Ein Mann im Elektrorollstuhl sitzt an einem Bahngleis, ein Zug fährt an ihm vorbei

Rollstuhlfahrer und Gehbehinderte können an vielen Bahnhöfen in Hessen ohne fremde Hilfe nicht den Zug erreichen. Land und Bahn wollen die Haltestellen barrierefrei umbauen - doch das bedeutet nach Ansicht des Fahrgastverbands "Pro Bahn" nicht zwingend eine gute Erreichbarkeit. Und: Manche Orte haben ohnehin das Nachsehen.

In Karben (Wetterau) sollten Rollstuhlfahrer mit der Bahn besser nur in Richtung Friedberg fahren. Dafür gibt es einen stufenlosen Zugang zum Bahnsteig. Bloß wehe dem, der eingeschränkt mobil ist und Richtung Frankfurt möchte. Hier behindert eine steile Treppe den Aufstieg zu den S-Bahn-Gleisen - ohne jeden Aufzug oder Schräge. Und selbst wer es bis zum Bahnsteig geschafft hat, muss noch die Stufe zwischen Zug und Bahnsteig überwinden.

Die Haltestelle im Ortsteil Groß-Karben steht mit diesem Problem nicht allein da. Hessenweit sind 49 Prozent der Bahnhöfe nicht barrierefrei. Das teilte das Verkehrsministerium auf eine kleine Anfrage der FDP mit. Ganz ohne Barrieren sind demnach 256 von 499 Bahnhöfen. Immerhin stufenfrei sind deutlich mehr: etwa 90 Prozent oder 450 Bahnhöfe.

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Stufenfrei oder barrierefrei?

An stufenfreien Bahnhöfen können Schrägen, Aufzüge und andere Hilfsmittel dafür genutzt werden, um Treppen zu umgehen.
Bei barrierefreien Bahnhöfen wird auch die Einstiegshöhe in den Zug beachtet: Menschen im Rollstuhl können dann ohne fremde Hilfe (etwa durch den Lokführer) die Lücke oder Stufe zwischen Waggon und Bahnsteigkante überwinden.

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584 Millionen Euro für den Umbau

Geld für den Um- und Ausbau von Bahnhöfen gibt es: Die Deutsche Bahn und das Land einigten sich im vorigen Jahr darauf, bis 2030 für insgesamt 584 Millionen Euro 119 Stationen zu modernisieren und barrierefrei zu gestalten. Hessen beteiligt sich nach Auskunft des Verkehrsministeriums mit mindestens 183 Millionen Euro "für Maßnahmen, die der Herstellung der Barrierefreiheit dienen".

Das Geld, teilte der für die Infrastruktur zuständige Bahnmanager Ronald Pofalla im November mit, solle auch jenseits der Großstädte eingesetzt werden. Die Bahn gehe vor allem kleine und mittlere Bahnhöfe an. Bis 2030 soll der Anteil der barrierefreien Haltestellen in Hessen auf rund 80 Prozent steigen, stufenfrei sollen dann mehr als 95 Prozent sein.

Barrierefrei heißt nicht zwingend "gut erreichbar"

Dass "barrierefrei" nicht immer bedeutet, dass es keine Höhenunterschiede gibt, mahnt der Fahrgastverband "Pro Bahn" an. Er kritisiert die Darstellung der Landesregierung: Demnach verstehe das Verkehrsministerium Höhenunterschiede von bis zu 21 Zentimetern zwischen Fahrzeug und Bahnsteigkante schon als barrierefrei. "Falsch und irreführend" sei das - und für Gehbehinderte in der Praxis ein Problem.

Zudem seien Bahnsteige selbst innerhalb einer Strecke häufig unterschiedlich hoch. Das Problem sieht "Pro Bahn" darin, dass seit Jahrzehnten punktuell Bahnhof für Bahnhof geplant werde, anstatt einheitlich für eine gesamte Bahnstrecke.

Ein sehbehinderter Mann mit Blindenstock steht vor einer offenen Zugtür. Vor ihm klafft eine Lücke zwischen Zug und Bahnsteigkante.

Vorbildlicher Bahnhof in Marburg

In Karben hoffen nicht nur gehbehinderte Bewohner auf einen schnellen Umbau, auch die Stadt hat sich mehrfach an die Bahn gewandt. Bislang erfolglos. Die Bahn verweist darauf, dass die Strecke der S-Bahn-Linie S6 zwischen Frankfurt und Friedberg ohnehin gerade ausgebaut werde. Nach Abschluss der Arbeiten sollen alle Stationen barrierefrei sein. Geplant ist eine Fertigstellung bis etwa Mitte des Jahrzehnts. Dann werde, so teilte es eine Bahn-Sprecherin dem hr mit, der Bahnsteig in Groß Karben auf 96 cm erhöht und zukünftig über eine Rampe an der Ostseite sowie über eine Aufzugsanlage barrierefrei zu erreichen sein.

In Marburg ist der Umbau des Bahnhofs schon deutlich weiter. Das Verkehrsbündnis Allianz Pro Schiene beschreibt ihn als geradezu beispielhaft für gelungene Barrierefreiheit. Im Jahr 2015 kürte das Bündnis ihn deshalb zum "Bahnhof des Jahres".

Alle Reisenden kämen in Marburg gleichberechtigt zum Zug, lobt Allianz Pro Schiene. Am Standort der Deutschen Blindenstudienanstalt (blista) habe man noch weiter gedacht: Für Blinde seien Schilder und Treppengeländer mit Brailleschrift angebracht worden. Es gebe spürbare Streifen, die in den Boden eingelassen sind, um Menschen ohne Augenlicht sicher vom Bahnsteig durch das Gebäude zu leiten.

Ziel des Verkehrsministeriums: 100 Prozent barrierefrei

In Karben, zwar keine Universitätsstadt, aber immerhin im Speckgürtel des Rhein-Main-Gebiets und lediglich 15 Bahnminuten von Frankfurt entfernt, bleibt Menschen im Rollstuhl bislang nicht viel mehr übrig, als mit dem Taxi nach Frankfurt zu fahren.

Das Verkehrsministerium beteuert, dass perspektivisch alle Bahnhöfe barrierefrei würden. Gerade bei älteren Bahnhöfen sei das aber nicht immer schnell umzusetzen: Teilweise seien Machbarkeitsstudien erforderlich, das koste Zeit. Außerdem hätten Bahn und Land die Projekte priorisiert: Stärker frequentierte Bahnhöfe - mit über 1.000 Reisenden am Tag - würden zuerst barrierefrei umgebaut.

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