schwangere Frau Ultraschall

Gewalt während der Geburt? Darüber spricht kaum jemand. Eine Betroffene aus Nordhessen erzählt von ihren Erfahrungen – und eine Hebamme erläutert, wie sich der Zeitdruck in Kliniken auf werdende Mütter auswirkt.

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Aktion zum "Roses Revolution Day"

hessenschau vom 25.11.2022
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Gewalt während der Geburt kommt regelmäßig vor – und betrifft zahlreiche Frauen. Doch kaum jemand spricht darüber. Johanna Kästner aus Kassel hat ihr Schweigen gebrochen. "Ich habe mich so klein und schutzlos gefühlt", sagt sie. "Heute weiß ich, dass alles, was nach der Geburt passiert ist, nicht normal war." Kästner zählt das Nähen des Dammschnitts ohne Betäubung und die Beschleunigung der Nachgeburt auf. "Oder dass mir mein Kind weggenommen wurde und ich nur für wenige Minuten am Tag zu ihm durfte."

Verein: Bis zu 45 Prozent der Gebärenden erleben Gewalt

Während der Geburt ihres ersten Kindes ist Kästner 17 Jahre alt. Eigentlich will sie ihr Kind zuhause zur Welt bringen. Seit Monaten hat sie sich auf diesen Moment vorbereitet. Doch die Wehen setzen sieben Wochen zu früh ein. Sie muss ins Krankenhaus. Und erlebt dort körperliche und psychische Gewalt.

Wie Kästner geht es vielen Frauen. Laut Schätzungen der Elternorganisation Mother Hood sind deutschlandweit zwischen 20 und 45 Prozent der Gebärenden betroffen. Der Verein setzt sich seit 2015 auf öffentlicher und politischer Ebene für eine bessere und sichere Geburtshilfe ein.

Unterschied zwischen Geburtsschmerzen und Gewalt

Doch warum ist Gewalt unter der Geburt ein bislang so undurchsichtiges Thema? Falschinformation, Nichtwissen und Scham zählen zu den Hauptgründen. "Sowohl von Ärzten als auch von anderen Frauen wird jungen Müttern suggeriert, dass Schmerzen bei der Geburt normal sind. Sind sie auch. Aber es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen normalen Geburtsschmerzen und Gewalt", befindet Kästner.

Verschiedene Formen der Gewalt

Gewalt während der Geburt kann auf körperlicher und psychischer Ebene passieren. Zur körperlichen Gewalt zählen laut Mother Hood Eingriffe, die mit der Gebärenden nicht abgesprochen werden – oder die (hinterher) nicht erläutert werden. Zum Beispiel ein Dammschnitt, ein Kaiserschnitt, Injektionen, das Fixieren der werdenden Mutter, das Nähen ohne Betäubung, das Verweigern einer PDA, oder auch: nicht essen oder trinken dürfen.

Zur psychischen Gewalt zählen unter anderem nicht Ernst nehmen, allein lassen, anschreien, die mütterliche Eignung in Frage stellen, herablassende Kommentare oder Vermitteln von Zeitdruck.

Strukturelles Problem: 1:1-Betreuung häufig nicht möglich

Viele der Gewaltvorgänge resultieren laut Hebamme Katrin Soose vom Landesverband der hessischen Hebammen aus einem strukturellen Problem im Gesundheitswesen. Geburt sei hauptsächlich ein Frauenthema. Daher finde es weniger Beachtung und werde nicht ausreichend finanziert.

"Zusätzlich sind in Hessen in den vergangenen zehn Jahren 15 Kliniken mit Geburtshilfe-Abteilungen geschlossen worden", sagt Soose. "So entstehen Ballungsräume. Die übrigen Kliniken werden überlastet und eine 1:1-Betreuung ist nicht mehr möglich." Das Personal, das der Frau in dieser sensiblen Situation Hilfe und Schutz vermitteln solle, sei selbst oft überlastet und verzichte häufig auf die eigenen Bedürfnisse wie den Toilettengang oder eine Trinkpause.

Die Karte zeigt die Krankenhäuser in Hessen, an denen Geburtshilfe-Stationen geschlosssen werden.

"Eine Hebamme will die Gebärende nicht allein lassen, sie muss es aber oft tun, weil sie noch zwei oder drei weitere Frauen bei der Geburt betreut", erklärt Soose. Sie hat daher ihren Beruf als Hebamme im Kreißsaal aufgegeben und bildet jetzt junge Hebammen aus. Die Aufklärung über gewaltsame Interventionen sei im Hebammenstudium durchaus ein Thema, das über ein Semester intensiv betrachtet würde. Soose sieht die Lösung in einer besseren Personalbemessung.

Stress während der Geburt traumatisiert Mutter und Kind

Erfahrungen, wie sie Johanna Kästner gemacht hat, wirken lange nach, weiß Psychologin Dorit Göbel. "Ist die Mutter während der Geburt Stress ausgesetzt, kann das ein Geburtstrauma bei Mutter und Kind auslösen." Insbesondere die Bindung zwischen Mutter und Kind würde durch nicht abgesprochene Eingriffe gefährdet. Das kann Kästner bestätigen. "Da mir das Kind entrissen wurde und ich es mir wiederholen musste, habe ich heute oft das Gefühl, es nur schwer loslassen zu können."

Nach sieben Jahren und zwei weiteren Geburten, die reibungslos verlaufen sind, hat Kästner ihren Frieden mit den Erlebnissen der ersten Geburt gemacht. Heute engagiert sie sich für mehr Transparenz bei diesem sensiblen Thema.

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Eine Rose gegen Gewalt

Um dem Thema "Gewalt unter der Geburt" hat die spanische Geburtsaktivistin Jesusa Ricoy im Jahr 2011 den Roses Revolution Day in Leben gerufen. Betroffene, die während der Geburt ihres Kindes in einem Kreißsaal Gewalt erfahren haben, legen am 25. November an diesem Ort eine Rose und Briefe nieder, um an ihr Erlebnis zu mahnen. Seit 2013 nehmen auch in Deutschland Betroffene an dem Aktionstag teil.

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