Hessen baut Kapazitäten aus Geflüchtete müssen immer länger in der Erstaufnahme bleiben

In der Gießener Erstaufnahmeeinrichtung wird es eng. Nach jahrelangem Rückgang kommen wieder mehr Flüchtlinge an. Gleichzeitig müssen Asylbewerber derzeit durchschnittlich doppelt so lange dort bleiben.
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Diskussion über Geflüchtete in Erstaufnahme-Einrichtungen

18 Monate in der Sammelunterkunft – und das mitten in der Pandemie. "Ich habe mich gefühlt wie im Gefängnis", erzählt eine junge Iranerin, die seit ihrer Ankunft in Deutschland 2020 die meiste Zeit in hessischen Erstaufnahmeeinrichtungen verbracht hat, zunächst am Hauptstandort in Gießen, dann in einem Außenstandort in Neustadt (Marburg-Biedenkopf).
Am meisten Spuren habe eine Massenquarantäne hinterlassen, erzählt sie: 600 Bewohnerinnen und Bewohner waren davon im vergangenen Winter betroffen. Darüber hatte damals auch der hr berichtet. Wochenlang habe niemand das Gelände der ehemaligen Kaserne verlassen dürfen, besonders die Frauen hätten unter den beengten Wohnverhältnissen und unhygienischen Zuständen in der Sammelunterkunft gelitten. Auch der Zugang zu Ärzten sei nur eingeschränkt möglich gewesen, sagt die Iranerin. Sie selbst habe in dieser Zeit Ängste und Depressionen entwickelt und dringend psychologische Hilfe benötigt.
Nach langem juristischen Hin und Her hat die Frau Asyl bekommen und lebt nun in einer eigenen Wohnung in Mittelhessen. Fast zwei Jahre nach ihrer Ankunft nimmt sie nun an einem Sprachkurs teil. Trotz ihrer Fluchterfahrung sagt sie: Diese Zeit in der Erstaufnahmeeinrichtung sei für sie besonders traumatisierend gewesen.
Besonders viele Afghanen
In der hessischen Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen und ihren Außenstandorten wird es derzeit wieder voll. Waren vor zwei Jahren noch 1.602 Menschen dort untergebracht, sind es aktuell 6.044. Auf dem Höchststand der Flüchtlingskrise waren es fast 10.000 Menschen. Dass nun wieder Notunterkünfte errichtet werden, hat jedoch ganz andere Gründe als 2015.
Nachdem 2020 pandemiebedingt besonders wenige Geflüchtete in Deutschland ankamen, kommen derzeit wieder etwas mehr Menschen an, rund 35 Prozent stammen derzeit aus Afghanistan. Außerdem kommen immer noch viele Menschen zum Beispiel aus Syrien, Iran und Somalia.

Von den Rekordzahlen der Flüchtlingskrise ist man in Hessen aktuell allerdings weit entfernt. Die Zahl der Neuzugänge bewegt sich etwa auf dem Niveau von 2017 und 2018. Dass die Erstaufnahme derzeit trotzdem so voll ist, liegt also nicht nur daran, dass wieder mehr Menschen kommen. Sie bleiben vor allem viel länger dort.
18 Monate Verweildauer möglich
Ursprünglich waren Erstaufnahmeeinrichtungen nur für den Übergang gedacht, für maximal drei Monate. Danach wurden die Geflüchteten entweder in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt oder einer Kommune "zugewiesen", die ihnen Wohnraum zur Verfügung stellte, möglicherweise auch während das Asylverfahren noch lief.
Auf hr-Anfrage teilte das Regierungspräsidium Gießen nun mit: Zwischen 2019 und 2020 hat sich die durchschnittliche Verweildauer in der Erstaufnahmeeinrichtung mehr als verdoppelt. Waren es vorher etwa zweieinhalb Monate pro Person, sind es aktuell fast sechs Monate.

Der Hintergrund ist eine bundesweite Gesetzesänderung aus dem Jahr 2019. Seitdem können Geflüchtete bis zu 18 Monate in Sammelunterkünften untergebracht werden, etwa während sie auf Bearbeitung ihres Antrags warten oder nachdem sie bereits abgelehnt wurden. Familien mit Kindern können bis zu sechs Monate dort bleiben. Der eineinhalbjährige Aufenthalt der Iranerin war nur aufgrund dieser Gesetzesänderung möglich.
Gießen baut Notunterkünfte
Die Erstaufnahmeeinrichtung hat bereits stillgelegte Außenstandorte wieder reaktiviert und will noch weitere Plätze schaffen, etwa in Friedberg, Darmstadt und Fuldatal. Auf dem Gelände in Gießen wurden bereits zusätzlich sechs Leichtbauhallen in einer Reihe errichtet, "um auf nicht vorhersehbare größere Zugänge reagieren zu können", wie es von Seiten des Regierungspräsidiums (RP) heißt.

Die Hallen wecken von außen Erinnerungen an die Zelte von 2015, sind aber deutlich stabiler gebaut, isoliert und besser ausgestattet. Es handelt sich dabei um eine Art Container mit Planendach. Innen wurden mit Trennwänden jeweils zwölf Kabinen für bis zu acht Menschen abgeteilt. Statt Türen gibt es Vorhänge, Zimmerdecken haben die Kabinen keine. Innen stehen Hochbetten, Metallspinde und Bierzeltgarnituren. Insgesamt können hier bis zu 600 Menschen untergebracht werden, laut RP falls nötig auch in Quarantäne.
"Rückführung ist coronabedingt schwierig geworden"
Regierungspräsident Christoph Ullrich verwies bei einem Rundgang auf verschiedene Gründe für die Erweiterung. Pandemiebedingt könne man die Einrichtungen nicht voll belegen und müsse die Menschen auf unterschiedliche Standorte verteilen. Hinzu komme, dass man derzeit Flüchtlinge aus Griechenland in der Erstaufnahme habe, die dort zwar schon anerkannt seien, aber aus rechtlichen Gründen nicht zurückgeschickt werden könnten. "Und wir haben erheblich höhere Zugänge, zum einen über Belarus und zum anderen übers Mittelmeer."

Ullrich nannte außerdem die Gesetzesänderung von 2019. Das neue Gesetz sei eingeführt worden "mit dem Ziel, Rückführungen besser durchführen zu können," so Ulrich. Aber die Rückführung in die Länder sei coronabedingt sehr schwierig geworden, weil sich etliche Länder abschotten würden.
"Da steht zwar nicht Anker drauf, ist aber Anker drin"
Kritik daran gibt es etwa vom hessischen Flüchtlingsrat. Geschäftsführer Timmo Scherenberg ist überzeugt, dass Hessen durchaus Spielräume im Gesetz nutzen und die Menschen früher in richtigen Unterkünften in den Kommunen unterbringen könnte. "In vielen hessischen Nachbarbundesländern läuft das anders", so Scherenberg.
Er meint: Es sei seiner Ansicht nach widersinnig, die Menschen so lange dort zu behalten. Die meisten der derzeit Ankommenden würden ohnehin eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten. "Durch lange Bearbeitungszeiten oder rechtliche Klagen kann sich so ein Prozess aber sehr lange hinziehen", sagt Scherenberg. In den Sammelunterkünften sei eine Integration jedoch in dieser Zeit nicht möglich.
Scherenberg kritisiert außerdem: Eigentlich habe sich die hessische Landesregierung gegen ein Konzept der "Ankerzentren" entschieden, wie es sie etwa in Bayern gibt. Die hessische Vorgehensweise sei derzeit aber "funktionsgleich" damit, meint Scherenberg. "Da steht zwar nicht Anker drauf, ist aber Anker drin."
Das Konzept der Ankerzentren geht auf eine Initiative der Großen Koalition von 2018 zurück. Demnach werden Geflüchtete bis zu ihrem endgültigen Asylentscheid in einer Gemeinschaftsunterkunft untergebracht. Verbände wie die Caritas und die Diakonie kritisieren daran die mitunter sehr lange gesellschaftliche Isolierung. Die neue Bundesregierung will laut Koalitionsvertrag nicht an den Ankerzentren festhalten.