Hilfe für Ukraine "Es fehlt schon jetzt an der Grundversorgung"

Bereits jetzt gibt es in der Ukraine Engpässe bei Lebensmitteln und medizinischer Ausstattung. Doch aktuell ist es kaum möglich, die dringend benötigten Waren überhaupt ins Land zu bringen, wie Helfer aus Hessen berichten.
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Gießener Hilfsorganisation Gain versorgt ukrainische Flüchtlinge

Petro Bokanovs Telefon steht momentan nicht mehr still. Alle fünf Minuten rufen Gemeindemitglieder an, die sich um um ihre Familien sorgen - oder Menschen direkt aus dem Kriegsgebiet, die ganz konkret um Hilfe bitten.
Bokanov ist einer von nur einer Handvoll ukrainisch-orthodoxer Priester in ganz Deutschland. Er betreut die Kirchen in Frankfurt und Mannheim. Vor drei Monaten war Bokanov noch selbst als Seelsorger dort: an der Front, der ständig wechselnden Kontaktlinie im Osten der Ukraine. Jetzt gibt es keine solche Linie mehr, sagt er. "Es gibt nur noch eine Front: die ganze Ukraine."
Wasser- und Stromversorgung beschädigt
Bokanovs Kirche betreut bereits seit Jahren mehrere Waisen- und Altenheime in der aktuell besonders stark betroffenen Ostukraine. "Da fehlt es schon jetzt an der Grundversorgung", berichtet Bokanov. Die Infrastruktur sei bei Angriffen beschädigt worden, es fehle an Wasser und Strom, aber auch schon an Lebensmitteln. Die Kirche sammelt derzeit Spenden, auch für Ärzte, die vor Ort taktische medizinische Hilfe leisten - ein spezielle Art der Notfallversorgung.

Dringend gebraucht werden laut Bokanov zum Beispiel Bandagen und Tourniqueten, also Abbindekompressen, um akute Blutungen zu stoppen: "Einfach alles, was man braucht, um sich am Leben zu halten, wenn man verwundet ist." In der Vergangenheit habe die Kirche auch selbst Warentransporte in die Ukraine organisiert, aber das sei aktuell nicht möglich. "Wir können momentan nur Geld schicken."
Hilfswerke bereiten sich auf massiven Einsatz vor
Zahlreiche nationale und internationale Hilfsorganisationen bereiten sich derzeit auf einen massiven Hilfseinsatz vor, um eine humanitäre Katastrophe in der Ukraine zu verhindern: So haben beispielsweise die Caritas und das Rote Kreuz bereits Notfall-Teams mobilisiert.
Die Malteser haben am Donnerstag einen großen Hilfseinsatz von Deutschland aus gestartet. Auch sie berichten: Im Lande würden die Lebensmittel stellenweise schon jetzt knapp, man rechne in zwei oder drei Tagen mit Versorgungsengpässen. Doch die große Fragen lautet derzeit: Kommen Hilfstransporte überhaupt noch in die Ukraine rein?
Gießener Organisation organisiert Transporte
Auch die in Gießen gegründete Hilfsorganisation Global Aid Network (Gain) hat schon Lastwagen losgeschickt. Gain ist ein internationales Netzwerk aus Hilfswerken, Unternehmen und Privatpersonen, das seit rund 30 Jahren Transporte mit Lebensmitteln, Schulmaterialen und medizinischer Ausstattung in Krisengebiete und arme Regionen bringt – insbesondere nach Osteuropa.

Geschäftsführer Klaus Dewald berichtet: Man habe das ganze Netzwerk aktiviert, um neue Waren zu organisieren. Vor allem Lebensmittel, medizinisches Material, Decken und Kleidung würden gebraucht. Gain habe noch Hilfsgüter vor Ort, die momentan von den Partnern im Land verteilt würden. Zudem gebe es Lager in Polen. Aber es sei derzeit nicht möglich, die dringend benötigten Waren überhaupt in die Ukraine zu bringen. "Aktuell kommen wir nicht rein", sagt Dewald. Gain geht davon aus, dass das sogar noch zwei bis drei Wochen dauern könnte, bis die russische Armee Hilfstransporte durchlässt.
Versorgung von Geflüchteten in Nachbarländern
Eine weitere humanitäre Aufgabe, vor der die Hilfswerke stehen: Die Versorgung von bereits jetzt tausenden Geflüchteten in den angrenzenden Ländern. Dewald berichtet, dass man bereits Geflüchtete versorge, die etwa in Moldawien, Rumänien und Polen angekommen seien. "Wir arbeiten vor Ort mit Kirchengemeinden zusammen, die Flüchtlinge auf ihre Privathäuser verteilen und jetzt auf Hilfe angewiesen sind, etwa was Bekleidung und Lebensmittel angeht."
Dewald meint: Der Konflikt sei zwar nicht über Nacht entstanden, dennoch habe mit der Heftigkeit der aktuellen Entwicklung kaum jemand gerechnet. Er sei vor einiger Zeit selbst einmal im von Separatisten besetzten Gebiet gewesen und habe durchaus mit einer Zuspitzung dort gerechnet. Aber dass die ganze Ukraine angegriffen werde, habe ihn und viele andere extrem überrascht.
Priester: "Die Welt muss aufwachen"
Auch der ukrainisch-orthodoxe Priester Petro Bokanov ist immer noch schockiert. Er hat nun eine klare Erwartung an den Westen: stärker einzugreifen als bisher. "Ich erwarte, dass die Welt endlich aufwacht und sieht, was passiert", sagt er. Er könne nicht fassen, dass so etwas im 21. Jahrhundert passieren könne: "Dass wieder ein Land mit einem irren Führer seine Grenzen verschieben will – und die Welt das immer noch schluckt."

Bokanov ist überzeugt, dass die Menschen in der Ukraine hochmotiviert sind, sich zu verteidigen. Dennoch warnt er: Was dort passiert, könnte auch mit baltischen Ländern oder sogar Deutschland passieren. Wie es weitergeht, hänge davon, was die Welt jetzt tut. "Der Westen muss aufhören, das Monster zu füttern."
Was ihm Freunde und Familie vor Ort erzählen würden, sei einfach schrecklich und abartig, sagt der Priester: "Raketen, Panzer, Luftangriffe - der Krieg ist einfach überall." Einige seiner Kontaktpersonen würden derzeit versuchen, ihre Kinder Richtung Westen zu bringen. Aber einige seien auch schon nicht mehr erreichbar. "Ich weiß nicht, was mit denen passiert ist."