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Daten-Blindflug in der Corona-Pandemie

Symbolbild: Kreideschrift "COVID-19" auf Tafel mit Inzidenzkurve

Der Präsident der Bundesärztekammer kritisiert "einen wahren Datenblindflug" bezüglich der Corona-Pandemie – und fordert Verbesserungen vor einer möglichen Herbstwelle. Doch: Wie blind sind wir wirklich bislang geflogen? Nachgefragt bei hr-Datenexperte Jan Eggers.

Am 4. März 2020 bekam hr-Datenjournalist Jan Eggers zum ersten Mal eine Pressemitteilung über die Ausbreitung des "neuartigen Coronavirus" in Hessen in die Hände. Es waren die ersten elf Fälle, detailliert aufgelistet mit Details zum Hintergrund der Ansteckung und zum Krankheitsverlauf.

Eggers hielt es für eine gute Idee, aus der Liste eine Tabelle zu erstellen, um grafisch darzustellen, wie sich die Infektionszahlen entwickeln. Für ihn bedeutete das danach sehr viel Arbeit und nicht immer war es einfach, überhaupt an die Daten zu gelangen. Aber es brachte auch Ertrag: Seine Übersichten mit Auswertungen zur sich dann entwickelnden Pandemie wurden zu hoch geschätzten und informativen Orientierungshilfen.

hessenschau.de: Der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, hat gesagt, wir hätten in den vergangenen zweieinhalb Jahren "einen wahren Datenblindflug" erlebt, der keine gute Grundlage für rationale Entscheidungen gewesen sei. Siehst du das ähnlich?

Jan Eggers: Ich muss Herrn Reinhardt widersprechen und ihm gleichzeitig auch recht geben. "Blindflug" finde ich ein bisschen zu stark. Wir dürfen ja nicht vergessen: Das, was ich so mache - eine tägliche und tagesaktuelle Übersicht der Krankheitsstände und Infektionszahlen - das hat es vor Corona nicht gegeben.

Jan Eggers Portrait

Das ist nur möglich, weil beim Robert-Koch-Institut (RKI) sehr engagierte Menschen in wirklich kürzester Zeit dafür gesorgt haben, dass man diese Daten hat. Auf der anderen Seite habe ich mich immer wieder geärgert über langsame und noch immer nicht digitalisierte Behörden.

hessenschau.de: Wie blind waren wir bezüglich der Corona-Daten?

Eggers: Zu Beginn der Pandemie gab es die Daten nur vom RKI über dessen Homepage, wo man von Hand alles abfragen musste. Vom hessischen Sozialministerium gab es einmal täglich eine Übersicht. Ich habe dann meinen Server so programmiert, dass er die Daten automatisch abgefragt hat.

Denn meine Anfragen beim Sozialministerium, ob man das tägliche Update nicht automatisiert bereitstellen könnte, stießen zu Beginn nicht unbedingt auf Sympathie. Vorsichtig gesagt. Das hat aber natürlich einen fatalen Nebeneffekt: Wenn Menschen Zahlen von Hand in eine Website tippen und das nicht einen Computer machen lassen, geht das gerne mal schief.

hessenschau.de: Das heißt: Die Daten an sich waren vorhanden, man musste sie nur finden.

Eggers: Die Infektionszahlen hatten wir tatsächlich relativ schnell. Was wir am Anfang überhaupt nicht hatten, sind Zahlen zur Krankheitslast in den Krankenhäusern. Das kam dann auch wieder erst auf Initiative des RKI, dass wir sehen konnten: Wie viele Corona-Infizierte liegen auf den Intensivstationen. Das zu bekommen, war schon sehr sehr gut. Was wir erst sehr viel später bekommen haben, sind ordentlich verwertbare Zahlen von den Normalstationen. In vielen Bundesländern gab es dazu gar keine Informationen.

hessenschau.de: In Hessen schon?

Eggers: Das hessische Sozialministerium hat im ersten Corona-Herbst angefangen, diese Daten zu liefern. Diese Zahlen wurden uns dann erst wöchentlich, später täglich zur Verfügung gestellt - übrigens vorbildlich, dass Hessen das gemacht hat.

Auf nationaler Ebene, noch unter Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), hatte man sich nämlich auf die Hospitalisierungsinzidenz verständigt, die nicht nur unaussprechlich sondern auch unausstehlich war. Ein Messwert, mit dem man praktisch überhaupt nichts anfangen kann. Und ein Beispiel für Daten, die man zwar hat, die aber nichts nutzen.

hessenschau.de: Konntest du anhand der nützlichen Daten vorhersehen, wie sich die Pandemie entwickeln würde?

Eggers: Manche Sachen haben wir aus den Daten schon vorhergesehen. Zum Beispiel als mit der Alpha-Variante die erste ansteckendere Variante kam – da haben wir anhand der Zahlen schnell erkannt, dass es einen Infektionsschub geben würde. Auch bei Delta konnte man mit simpler Prozentrechnung und den Daten schnell erkennen, wohin die Reise gehen würde.

Andererseits muss ich auch sagen: Ich als Nicht-Virologe habe einige Male gestaunt, welche Haken das Virus schlägt. Und dass es in der Realität doch viel komplizierter ist, als in den Daten. Das hat mich Bescheidenheit gelehrt.

hessenschau.de: Der Frankfurter Virologe Martin Stürmer hat kürzlich gesagt, die aktuellen Infektionszahlen deuteten auf eine Sommerwelle hin. Wie beurteilst du das?

Eggers: Ich würde Herrn Stürmer da nicht widersprechen wollen. Wenn ich eine einfache Prozentrechnung ansetze, sehe ich: Die beiden neuen, infektiöseren Varianten stecken wieder vermehrt Menschen an. Jede Woche haben wir 60 bis 70 Prozent mehr Krankheitsfälle mit diesen neuen Varianten, während die Zahl der Infektionen mit den anderen Varianten zurückgeht. Rein von den Daten her spricht also alles für eine Sommerwelle.

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Aber da kommt wieder der Punkt, an dem das Virus im wirklichen Leben komplexer ist. Wir wissen einfach noch nicht, wie immun wir nun gegen die neuen Varianten sind, wie sich das schöne, warme Wetter auswirken wird. Aber es ist schon sehr vernünftig, die Möglichkeit einer Sommerwelle in Betracht zu ziehen und auf den schlimmstmöglichen Fall vorbereitet zu sein.

hessenschau.de: Ärztekammer-Chef Reinhardt zufolge geht das nur, wenn Klarheit über das tatsächliche Infektionsgeschehen herrscht, wenn systematisch Daten zu Infektionsdynamik, Krankheitsschwere und zur Belastung des Gesundheitswesens erhoben und ausgewertet werden.

Eggers: Da bin ich ganz bei ihm. Wir haben vor allem eine Sache gesehen: Wenn man lokal auf so eine Infektionswelle reagieren will, zum Beispiel in einem bestimmten Bereich wieder die Maskenpflicht anordnen will, dann muss man das so früh wie möglich tun. Je früher man gegensteuert, desto weniger schlimm wird es. Und gegensteuern kann man nur, wenn man gute Zahlen hat und wenn man sie möglichst schnell hat.

hessenschau.de: Was muss sich also ändern?

Eggers: Zahlen zu Virus-Varianten zum Beispiel. Dafür muss man Geld in die Hand nehmen und Proben im Labor nachsequenzieren. Das wurde lange nicht gemacht, dann doch und dann bei erster Gelegenheit wieder abgeschafft.

Oder einfach die Tatsache, dass wir eigentlich im digitalen Zeitalter ganz andere Möglichkeiten haben. Mit welcher Technik die Gesundheitsämter Infektionsfälle zählen und verfolgen, dafür ist der Kreis selbst verantwortlich – und so findet man einen ganzen Zoo unterschiedlicher Lösungen mit viel zu viel Reibungsverlusten und Handarbeit.

Das Gespräch führte Max Sprick.

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