Umut Kaban steht in einer Straße, im Hintergrund (unscharf) sind Häuser zu sehen. Er blickt in die Kamera.

Arm, arbeitslos, schlechte Deutschkenntnisse: Umut Kaban kennt die Probleme vieler Menschen in der Kasseler Nordstadt. Er ist selbst in dem Brennpunktviertel aufgewachsen, hat einen Migrationshintergrund. Als Quartiersmanager ist er deshalb besonders nah dran.

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Kampf für Chancengleichheit in Kassel

hs 18.03.2023
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"Von da oben aus haben wir die Straße regiert", sagt Umut Kaban und zeigt vom Vier-Tore-Platz hoch auf eine überdachte Bank. Hier, auf dem Bolzplatz in der Kasseler Nordstadt, hat der 34-Jährige einen Großteil seiner Kindheit und Jugend verbracht.

Fast jeden Tag sei er mit seiner Clique dort oben gewesen - "bis die Straßenlaternen angegangen sind", erinnert er sich, "das war unser Zeichen, dass es Zeit ist für das Abendessen". Die Überdachung der Bank ist heute aus Metall. Die Holzkonstruktion von früher habe zu oft gebrannt, erklärt Kaban.

Umut Kaban zeigt auf eine überdachte Bank auf einer Anhöhe. Rechts steht ein Baum ohne Laub.

Ein paar Straßen weiter, in der Friedrich-Wöhler-Siedlung, ist Kaban aufgewachsen, als Sohn türkischer Eltern. Die fünfköpfige Familie lebte in einem der hellgelben Mehrfamilienhäuser, die Oma ein paar Blocks weiter, um die Ecke Onkel und Tante mit den Cousins.

"Schlagen oder geschlagen werden"

Nach der Schule traf er die Nachbarskinder draußen auf der Straße. Spielte - und kämpfte um die Vorherrschaft im Stadtteil. "Schlagen oder geschlagen werden - das war das Motto", erinnert sich Kaban heute.

Die Siedlung liegt in der Kasseler Nordstadt. Der Bezirk mit der höchsten Einwohnerdichte und dem größten Ausländeranteil gilt seit Jahren als Problemviertel der Stadt.

Kaban hat hier die Grundschule besucht und ist dann auf die Hauptschule gewechselt, dorthin, wo auch seine Kumpels waren. 

Umut Kaban in "seiner" Nordstadt

Vom Brennpunkt an die Uni 

Wenn man jetzt, Jahre später, mit Kaban durch die Nordstadt läuft, wird er überall auf der Straße angesprochen. Wir treffen Mino, einen Freund aus Kindertagen, den er seit mehr als fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen hat. Die beiden umarmen sich, tauschen in kurzer Zeit Jahrzehnte Lebensweg aus.

Mino hat schon gehört, dass sein Sandkastenfreund Familie hat und im Viertel arbeitet. Solche Informationen werden durch Mundpropaganda weitergetragen - auch wenn die beiden schon lange nicht mehr in der Wöhler-Siedlung wohnen.

Umut Kaban steht mit seinem Sandkastenfreund Mino vor den hellgelben Häusern der Friedrich-Wöhler-Siedlung.

Kaban ist das, was man einen Bildungsaufsteiger nennt. Er hat es vom Brennpunktviertel an die Uni geschafft, dort Stadtplanung studiert. Jetzt arbeitet er als Quartiersmanager und Bildungsberater in der Kasseler Nordstadt, seiner Heimat.

Dort kümmert er sich um die Menschen im Stadtteil, begleitet Kinder und Jugendliche auf dem Weg in ihre Zukunft und hilft, Lösungen für ein besseres Quartier zu finden. Er selbst versteht sich als Brücke zwischen den Menschen in der Nordstadt und der Politik.

Weitere Informationen

Was macht ein Quartiersmanager?

Quartiersmanager sind für einen bestimmten Stadtteil zuständig - und für die Menschen, die dort leben. Sie beraten bei Problemen, beispielsweise bei der Arbeits- oder Wohnungssuche, aber auch wenn Menschen mit den Anforderungen von Ämtern überfordert sind. Gleichzeitig vermitteln sie zwischen Quartier und Politik und vernetzen sich mit bestehenden Einrichtungen im Stadtteil, beispielsweise Organisationen, die Kurse zum Spracherwerb anbieten oder integrativen Vereinen.

Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit ist die Information der Menschen sowie die Aktivierung von Engagement für den Stadtteil. Das können die Planung und Durchführung von Runden Tischen bei Konflikten sein, aber auch die Organisation und Begleitung von Beteiligungsprojekten für den Stadtteil. Ziel der Arbeit ist es, Lösungen für ein besseres Quartier zu finden - gemeinsam mit allen Beteiligten.

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Motivation als stärkster Antreiber

Umut Kaban in "seiner" Nordstadt

Den Grundstein für diesen Werdegang hat er selbst vor vielen Jahren gelegt. Damals, in der siebten Klasse hat er die Reißleine gezogen und versucht, sein Leben in den Griff zu bekommen. Das hat er geschafft - mit Hilfe von außen.

Er erinnert sich an den Schlüsselmoment: Einen Termin beim Schulleiter, weil er kurz vor dem Schulverweis stand. Sein Vater habe mit Tränen in den Augen hilflos auf einem Stuhl gesessen, erzählt Kaban mit stockender Stimme. Da habe es Klick gemacht und es sei ihm klar geworden: "Jetzt muss ich mich ändern."

Sein Schulleiter und seine Familie hätten immer an ihn geglaubt und ihn motiviert, so Kaban - "und irgendwann habe ich selbst angefangen, an mich zu glauben".

Er wechselt erst auf den Realschul-, später auf den Gymnasialzweig - auch weil sein Schulleiter ihn immer wieder pusht. "Allein sein Schulterklopfen hat mich motiviert", erinnert sich der 34-Jährige heute.

Vertrauen und Bildung als Knackpunkte

Im Job profitiert er von seiner Geschichte – und vom türkischen Migrationshintergrund. Wenn Menschen in der Nordstadt ein Problem haben, kommen sie zu ihm oder er zu ihnen. "Mir stehen die Türen hier in der Nordstadt offen”, sagt Kaban, "weil die Menschen denken: er ist einer von uns - den können wir reinlassen". 

Es habe sich schnell rumgesprochen, dass er bei Bildungsfragen helfe, täglich werde er zu Familien nach Hause eingeladen. Er begleitet Familien zu Elterngesprächen, übersetzt und berät in Fragen der Schullaufbahn. Vertrauen sei dabei das A und O. Erst wenn er das Vertrauen der Familie habe, könne er helfen.

Sein Ziel: Die Familien von Beginn an betreuen und nicht erst, wenn es zu spät ist. Denn Kaban weiß: einmal falsch abgebogen und auch er stünde nicht da, wo er jetzt steht. 

Armut führt zu Stress

Für viele Familien sei Armut oft eine zusätzliche Belastung. Diese führe zu Stress, Beschämung und Unsicherheit. Letzteres sei ein Grund, warum die Menschen oft sehr spät Hilfe bei ihm suchten, erklärt Kaban. "Sie kommen zu uns, wenn die Räumungsklage vor der Tür steht oder seit Wochen kein Geld mehr geflossen ist."

Wenn auch er nicht mehr weiterhelfen kann, holt er sich Unterstützung bei einem der vielen Bildungsträger in Kassel, die kostenlose Hilfe und Lösungen anbieten.  

Mitgefühl, aber kein Mitleid

Ein Fall, der ihm besonders im Gedächtnis geblieben ist? "Rette meinen Sohn", sagte eine Frau zu ihm. Ihr Sohn, fast volljährig, habe weder Bock auf Schule, noch auf Freunde gehabt, sei aus seinem Zimmer nicht mehr rausgekommen.

Der Vater krank, die Mutter von der Pflege des Ehemannes belastet - der Jugendliche ohne Halt. Kaban kümmerte sich, zeigte kein Mitleid, aber Mitgefühl und baute Vertrauen auf. So wurde er zum Vorbild, zum "Abi" - dem großen Bruder. Auf diese Weise konnte er den jungen Mann motivieren - der überwand sein Tief und fand einen Praktikumsplatz.

Motivation: Familien glücklich machen

Umut Kaban in "seiner" Nordstadt

Was ist Umut Kabans Motivation? Er möchte Familien glücklich machen und das Lächeln in ihren Augen sehen, wenn er ihnen hilft. Sein Fokus liegt dabei auf den Kindern. Sie sollen nicht dieselben Fehler machen wie er.

Seinem Lieblingsort von damals ist er treu geblieben. Wenn er nach der Arbeit Ruhe braucht, geht er auch heute noch zum Vier-Tore-Platz. Wenige Meter vom Trubel in der Holländischen Straße entfernt fühle er sich sicher und finde zu sich selbst, verrät Kaban. "Das ist ein ganz wichtiger Ort für mich." 

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Armut bei Kindern - Studie der Bertelsmann Stiftung

Erst kürzlich hatte eine Studie der Bertelsmann Stiftung ergeben, dass in Hessen etwa jedes vierte Kind armutsgefährdet ist. Besonders betroffen sind laut Studie Kinder und junge Erwachsene in den größeren Städten wie Kassel, Offenbach, Wiesbaden und Darmstadt. 

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