Verfassungsschutzpräsident über Demos, Telegram und gewaltbereite Querdenker "Radikalisierungsspirale macht uns große Sorge"
Die Corona-Proteste auf den Straßen werden größer, der Ton rauer und sogar Morddrohungen stehen im Raum: Im Interview äußert sich der hessische Verfassungsschutzpräsident Schäfer besorgt über die wachsende Radikalisierung - und erläutert die zunehmende Gefahr.
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Schattenwelt Telegram: Wie sich Impfgegner und Corona-Leugner in Hessen organisieren

Die Zahl der Menschen, die an Demonstrationen gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen teilnehmen, steigt seit Wochen an: Rund 19.000 Menschen gingen zuletzt hessenweit auf die Straße.
Der Widerstand organisiert sich besonders über den Messengerdienst Telegram. Dort werden aber nicht nur Demo-Termine geteilt, sondern auch immer wieder Nachrichten voller Hass und Hetze, bis hin zu konkreten Aufrufen zu Straftaten, gepostet.
Der Kasseler Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD) etwa erhielt auf Telegram Moddrohnungen aus der Querdenker-Szene. Anfang der Woche räumte die Polizei dann wegen einer Bombendrohung ein Gebäude der Universität Kassel, in dem zu dieser Zeit die Stadtverordneten-Versammlung tagte. In einem anonymen Schreiben waren zuvor die Corona-Verordnungen kritisiert worden.
Das Bundeskriminalamt in Wiesbaden richtete eigens eine neue Telegram-Taskforce ein, und auch das hessische Landesamt für Verfassungsschutz beschäftigt sich damit. Verfassungsschutzpräsident Robert Schäfer äußert sich im Interview besorgt.
hessenschau.de: Herr Schäfer, welche Gruppen und Entwicklungen beobachtet der Verfassungsschutz derzeit im Blick auf die aktuelle Proteste?
Robert Schäfer: Das muss man sehr differenziert betrachten. Diese Szene passt nicht in eine Schublade, sondern ist extrem heterogen: Wir haben da Impfgegner, Mobilfunkgegner, Esoteriker und wir haben Hinweise darauf, dass da auch Geimpfte mitlaufen. Es sind auch sehr viele Bürgerinnen und Bürger, die einfach ihr Recht in Anspruch nehmen, sich friedlich zu versammeln und ihre Meinung zu äußern. Für uns ist es extrem wichtig, dass man Kritik üben darf an den Entscheidungen. Das ist in der Demokratie ein hohes Gut.
Aber wir sehen auch von Beginn an, dass sich da Extremisten beteiligen: etwa gewaltorientierte Rechtsextremisten, Reichsbürger und sogenannte Selbstverwalter. Zunächst haben sie versucht, sich anonym unterzumischen und mitzulaufen, aber mittlerweile ist es so, dass sie offen erkennbar teilnehmen, teilweise sogar in eindeutiger Parteikleidung. Das macht für uns deutlich, dass sich eine Radikalisierungsspirale in Gang gesetzt hat, und das macht uns große Sorge.
hessenschau.de: Besteht die Gefahr, dass in diese Szenen nun auch Bürgerinnen und Bürger mit hineinkommen, die vorher nicht extremistisch waren?
Schäfer: Ja. Dieses Spektrum versucht, seine Anschlussfähigkeit zu vergrößern. Das ist eine Chance für Rechtsextreme, mit Nicht-Rechtsextremen in Kontakt zu kommen. Es sorgt uns, dass sie es auch erfolgreich hinbekommen, sich als Menschen zu inszenieren, die die Interessen der Gegner der staatlichen Maßnahme zur Pandemieeindämmung vertreten, um sich quasi an die Spitze der Bewegung zu setzen.

Deshalb bemühen wir uns, mit unseren Präventionsangeboten genau darauf aufmerksam zu machen: Dass man aufpassen muss, mit wem man da gemeinsam auf die Straße geht, und was deren Anliegen sind. Die einen reden und die anderen handeln. Dieser Mix macht uns Sorge, und wir bitten ausdrücklich darum, dass man gegen solche Ideologien klare Kante zeigt und sich nicht instrumentalisieren lässt.
hessenschau.de: Telegram spielt offenbar eine große Rolle in dem Ganzen. Was unterscheidet den Messengerdienst von anderen sozialen Medien?
Schäfer: Er ist ähnlich schwierig, aber doch besonders. Soziale Medien und Messengerdienste sind ja die absolut dominierenden Kommunikationsmittel, und Extremisten nutzen die natürlich. Die Reichweite ist annähernd unbegrenzt. Aber es gibt doch einen sehr deutlichen Unterschied: Die Attraktivität von Telegram ist, dass dort - wenn überhaupt - nur eingeschränkt moderiert oder reguliert wird. Ein Beispiel: Die rechte Identitäre Bewegung ist durch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz davon betroffen, dass Facebook, Instagram und Twitter für sie abgeschaltet oder sehr stark reglementiert sind. Deshalb ist sie zu Telegram gewechselt. Selbst die hessische NPD hat das gemacht - schon im Vorgriff auf eine solche Maßnahmen.
hessenschau.de: Kann der Verfassungsschutz überhaupt noch überschauen, was auf Telegram möglicherweise Problematisches passiert?
Schäfer: Es ist natürlich klar, dass das eine große Herausforderung auch für uns Nachrichtendienste ist. Dieses Protestgeschehen differenziert sich bundesweit aus, immer wieder bilden sich neue Akteure und Zusammenschlüsse. Das ist sehr heterogen, teilweise sehr regional und sehr anlassbezogen.
hessenschau.de: Auf Telegram ist es auch schon zu Morddrohungen gekommen. Wie ernst nehmen Sie solche Gewaltaufrufe?
Schäfer: Wir nehmen das erst mal sehr ernst. Das muss sauber analysiert und aufgeklärt werden. Wenn wir so etwas finden, geht das an die Polizei. Und der eine oder andere ist dann auch sehr überrascht, wenn Sicherheitsbehörden schnell auf so etwas reagieren.
hessenschau.de: Beobachten Sie in Hessen besondere regionale Schwerpunkte, in denen sich der Protest organisiert?
Schäfer: Das hat sich in den letzten Wochen deutlich verändert. Zu Beginn haben wir eine Konzentration auf die größeren Städte festgestellt. Inzwischen hat sich dieses Protestgeschehen auf ganz Hessen ausgerollt. Es finden viele, viele kleine Veranstaltungen statt. Aus Verfassungsschutz-Sicht können wir aber keinen Raum identifizieren, in dem es besonders schwierig ist.
hessenschau.de: Vor allem in Ostdeutschland sehen wir inzwischen immer extremere, sogar gewalttätige Auseinandersetzungen. Ist das eine reelle Gefahr auch in Hessen?
Schäfer: Das ist ein bisschen, wie in die Glaskugel zu schauen. Bisher gab auch hier die eine oder andere Straftat, aber solche Vorkommnisse haben wir in Hessen bisher nicht verzeichnet. Wir hoffen natürlich, dass das so bleibt. Auch die Bürgerinnen und Bürger müssen hellwach sein und ihren Beitrag leisten, indem man sich entweder distanziert oder - wenn etwas nicht in Ordnung wirkt - auch die Sicherheitsbehörden informiert.
hessenschau.de: Manche Menschen haben noch die Bilder vom Sturm auf das US-amerikanische Kapitol im Kopf und fragen sich: Wie gefährlich ist die aktuelle Entwicklung auch für unsere Demokratie?
Schäfer: Ich persönlich mache mir da schon große Sorgen. Auch in Berlin waren schon Menschen auf der Reichstagstreppe. Insofern müssen wir das sehr, sehr ernst nehmen und schauen, wie sich aus dem großen Protest diejenigen ihre Handlungsmaxime raussuchen, die für so etwas anfällig sind und so etwas umsetzen würden. Wir müssen in unserem Denken von solchen Szenarien ausgehen, sonst können wir unsere strategisch-taktischen Überlegungen nicht ordentlich anstellen.
hessenschau.de: Das heißt: Wenn so was passieren würde, wäre man darauf vorbereitet, es abzuwehren?
Schäfer: Davon gehe ich aus.
Das Interview führte Benjamin Müller