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Erste Erfolge mit Therapie bei Rückenschmerzen

Mann im blau-weiß-kariertem Hemd fasst sich mit beiden Händen an den Rücken

Viele Menschen leiden unter Rückenschmerzen. Kann Psychotherapie helfen? Das untersucht die Uni Marburg. Psychologin Jenny Riecke erklärt im Interview, wie ein anderer Umgang mit Schmerzen das Leben der Betroffenen verbessern kann.

Wegen Rückenschmerzen zur Psychotherapie? Ein Schritt, der für die wenigsten Betroffenen auf der Hand liegt. Doch auch die Psyche kann eine Rolle spielen. Mehr noch: Geist und Körper könne man nicht trennen, sagt Jenny Riecke vom Fachbereich Psychologie der Uni Marburg. Sie koordiniert eine neue Studie zu der Frage, wie weit Psychotherapie bei chronischen Rückenschmerzen helfen kann und wenn ja, welche Therapieform für welche Patientinnen und Patienten geeignet ist. Obwohl die Vorbehalte gegen Psychotherapie weiter hoch sind, sei die Nachfrage potenzieller Studienteilnehmer enorm, berichtet Riecke im Interview.

hessenschau.de: Frau Riecke, die Gründe für Rückenschmerzen sind ja eigentlich bekannt - etwa zu wenig Sport, zu viel Bildschirmarbeit oder Fehlhaltungen. Wie kommt die Psyche ins Spiel?

Jenny Riecke: Psyche und Körper hängen sehr eng zusammen. Schmerzforschende sind komplett davon abgekommen, Körper und Geist zu trennen, weil wir Menschen keine Maschinen sind. Selbst bei klar körperlichen Erkrankungen gibt es immer einen psychischen Anteil. Die Forschung hat gezeigt, dass es Risikofaktoren gibt, die Schmerzen auf lange Sicht begünstigen.

Dazu gehört zum Beispiel eine niedergeschlagene Stimmung. Negative Gedanken wie etwa "Das hört nie wieder auf" oder "Ich bin dem hilflos ausgeliefert" können sich sehr ungünstig auswirken. Auch der Umgang mit dem Schmerz ist ein entscheidender Faktor.

hessenschau.de: Inwiefern?

Riecke: Ist der Betroffene sehr passiv, schont sich sehr und vermeidet Aktivitäten, dann ist das auf lange Sicht kontraproduktiv - auch wenn im ersten Moment nachvollziehbar ist, dass man Schmerzen vermeiden will. Wenn man im anderen Extremfall dazu neigt, die Zähne zusammenzubeißen und ständig über seine Grenzen geht, dann kann sich das aber auch negativ auswirken.

hessenschau.de: Wann ist für Rückenschmerzbetroffene der Moment gekommen, sich psychotherapeutische Hilfe zu suchen?

Riecke: Zum einen ist Psychotherapie bei chronischen Schmerzen angezeigt. Diese definieren sich über die Dauer. Wenn ich also nahezu täglich Schmerzen habe, und das über sechs Monate. Das gibt es leider oft. Zum anderen muss ich schauen: Fühle ich mich durch die Schmerzen in meinem Alltag stark beeinträchtigt? Merke ich, dass meine Stimmung darunter leidet? Mein Umfeld vielleicht auch? Kann ich Dinge nicht mehr tun, seitdem die Schmerzen da sind? Ziehe ich mich zurück?

Wenn ich merke: Mein Leben leidet umfassend unter den Schmerzen, ist das ist ein Alarmzeichen. Hier kann man mit einer Psychotherapie jedoch gut ansetzen.

hessenschau.de: Gibt es schon erste Erfahrungen, wie weit psychotherapeutische Ansätze helfen können?

Riecke: Unsere Erfahrungen sind sehr positiv. In der Psychotherapie können Betroffene lernen, wie sie ihre Lebensqualität verbessern, indem sie wieder mehr Freiheitsgrade in ihrem Leben gewinnen. Es geht häufig darum, den Fokus wieder auf die Dinge zu lenken, die mir wichtig sind und entsprechend weg vom Schmerz, der bis dahin mein Leben bestimmt.

Es ist bei vielen Menschen so, dass sie vor allem schöne Sachen aufgeben: Unternehmungen mit Freunden, Sport, Freizeitaktivitäten, weil diese oft mit der Befürchtung verknüpft sind, dass der Schmerz wieder schlimmer wird. Das oberste Gebot ist, Schmerz zu vermeiden. Das hat aber den hohen Preis, dass ich auf die Dinge verzichte, die mir im Leben wichtig sind.

Und da setzt Psychotherapie an - wieder auf die Lebensqualität zu schauen. Betroffene können konkrete Strategien im Umgang mit den Schmerzen erlernen, um aktiver zu werden und ein gutes Leben mit Schmerzen zu haben. Das ist ein anderer Ansatz als eine medizinische Behandlung, bei der es um Schmerzreduktion geht oder darum, den Schmerz komplett loszuwerden - was eben nicht immer gelingt.

hessenschau.de: Warum ist Schmerztherapie generell so kompliziert?

Riecke: Gerade bei chronischen Schmerzen sind die Ursachen oft so komplex, dass wir nicht mehr ausdifferenzieren können: Wie viel macht noch der Bandscheibenvorfall für den Schmerz aus, wie viel ist Schmerzgedächtnis, wie viel ist Umgang mit dem Schmerz? Wir wissen, dass das alles den Schmerz beeinflusst. Hinzu kommt, dass der Schmerz selbst ein großer Stressfaktor ist.

hessenschau.de: Ein Teufelskreis. Wie knacken Sie den?

Riecke: Zunächst muss man wissen, dass sich unser Gehirn merkt, wenn wir sehr schmerzhafte Erfahrungen machen. Dabei wird alles abgespeichert: Was habe ich in der Situation gemacht, gedacht, gefühlt? Wer war dabei? Viele Menschen macht diese Erfahrung extrem hilflos, weil sie sich ihrem Körper ausgeliefert fühlen. Wenn in Zukunft eine Situation auftritt, die dieser sehr schlimmen Schmerzsituation ähnlich ist, dann kann es passieren, dass der Körper vorsorglich mit Schmerzen reagiert, obwohl keine akute Schädigung vorhanden ist.

Diese Prozesse gehen auf das so genannte Schmerzgedächtnis zurück, das sich über die Zeit entwickelt, es reagiert zum Teil wie eine sehr empfindliche, übersensible Alarmanlage. In der Therapie geht es dann darum zu lernen, Schmerzen nicht automatisch als Warnsignal für eine Gefahr oder Schädigung zu sehen und sich entsprechend zu verhalten.

hessenschau.de: Wie sieht das konkret aus?

Riecke: In der Therapie gehen wir gezielt wieder in die Aktivitäten rein - zum Beispiel, indem man sich zusammen aufs Fahrrad setzt oder einen längeren Spaziergang hier zum Marburger Schloss macht oder eine Wasserkiste hebt - je nachdem, welche Aktivitäten Angst machen. Die Betroffenen machen dann die Erfahrung, dass es weniger schlimm ist als sie es erwartet haben, denn häufig ist die Katastrophe, die diese Menschen befürchten, schon sehr lange her. Das ist auch für eine Therapeutin eine sehr schöne Erfahrung, weil man den Menschen im Idealfall ihre Hobbys wiedergeben kann.

hessenschau.de: Das klingt nicht nach dem Klischee vom Patienten auf der Couch und dem Therapeuten im Stuhl.

Riecke: Nein, man sitzt nicht im Therapiezimmer und spricht stundenlang über seine Kindheit. In diesem Fall ist Psychotherapie sehr aktiv und ganz klar auf das Hier und Jetzt bezogen. Psychotherapie leistet dabei Hilfe zur Selbsthilfe.

hessenschau.de: Wie ist bislang die Resonanz auf die Studie?

Riecke: Einerseits ist die Nachfrage sehr hoch. Das Telefon klingelt sehr oft und wir bekommen jede Woche E-Mails, die teilweise sehr verzweifelt klingen. Das ist die traurige Realität: Bis Betroffene in der Psychotherapie ankommen, vergehen manchmal Jahrzehnte, weil die meisten erst im medizinisch geprägten Gesundheitssystem unterwegs sind und sehr spät im Krankheitsverlauf bei uns landen.

hessenschau.de: Weil - andererseits - die Vorbehalte noch sehr groß sind?

Riecke: Viele fühlen sich abgeschoben. Ich wünsche mir in der Tat mehr Aufklärung über moderne Psychotherapie. Ich gebe auch Ausbildungsseminare und das erste, was ich angehenden Psychotherapeuten beibringe ist, dass sie transparent machen, was in der Therapie passiert. Anders als in der medizinisch geprägten Behandlung, bei der jemand in Weiß vor mir sitzt und mir sagt, was ich zu tun habe, geht es bei Psychotherapie ganz klar darum, selbst aktiv zu werden und die Selbstbestimmung wieder zu erlangen.

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Hintergrund der Studie

Die Philipps-Universität Marburg ist nach eigenen Angaben eines von fünf Zentren in Deutschland, an denen in den nächsten drei Jahren insgesamt knapp 400 Personen mit chronischen Rückenschmerzen behandelt werden sollen - in Marburg stehen insgesamt 60 Einzel-Therapieplätze zur Verfügung (wegen der hohen Nachfrage kommt es zu Wartezeiten bei einer möglichen Behandlung). Weitere Zentren befinden sich an den Universitätsambulanzen in Landau und Mainz sowie den Universitätskliniken Essen und Heidelberg.

Titel der groß angelegten Studie ist "Effects of Exposure and Cognitive-behavioural therapy for chronic back pain" (EFFECT-Back). Die Leitung hat die Universität Koblenz-Landau, die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert sie mit mit 1,7 Millionen Euro.

Ende der weiteren Informationen

Das Gespräch führte Sonja Fouraté.