Protestierende Menschen

Die Zukunftsverhandlungen hatten Erfolg, die Krise am Universitätsklinikum Gießen-Marburg scheint aber immer noch nicht überstanden zu sein. Angestellte und die Gewerkschaft Verdi fordern dringend Entlastung - tariflich festgeschrieben. Zu Kundgebungen kamen hunderte Beschäftigte.

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UKGM-Beschäftigte fordern Entlastungstarifvertrag

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Nachts allein auf Station - es ist der Albtraum jeder Krankenpflegerin. Trotzdem passiert es in letzter Zeit immer öfter, dass Pflegerinnen wie Nilüfer Cankut plötzlich allein dastehen, in ihrem Fall verantwortlich für bis zu 24 Patienten auf einer pneumologischen Station am Uniklinikum Gießen und Marburg (UKGM). Viele davon kämpfen mit Long Covid und haben Sauerstoffbedarf, berichtet die Pflegerin.

"Wenn kurzfristig jemand ausfällt, ist man dann die einzige ausgebildete Fachkraft mit vielen Hilfskräften oder Schülern und muss auch noch gucken, dass die keinen Fehler machen", berichtet Cankut. "Es muss mehr Personal her, die Patienten sind gefährdet dadurch", sagt sie.

Cankut arbeitet seit über 20 Jahren am UKGM, früher sei man häufig zu viert gewesen, inzwischen oft nur zu zweit - oder eben sogar allein. "Ich liebe meinen Beruf, aber wir schaffen das einfach nicht mehr", sagt sie mit erstickender Stimme. "Inzwischen bin ich einfach nur noch traurig darüber, keine Zeit mehr zu haben, mich richtig um die kranken Menschen kümmern zu können." Deswegen habe sie diesen Job schließlich mal ergriffen.

Endlich Ergebnis nach jahrelangen Verhandlungen

Kündigungswellen, Unterbesetzung, Kritik von Ärztinnen und Ärzten - immer wieder gab es in den vergangenen Jahren Wirbel um Deutschlands einzige privatisierte Uniklinik. Hinzu kam: Land und UKGM konnten sich jahrelang nicht darüber einigen, wie die Klinik in Zukunft finanziell aufgestellt werden soll, immer wieder begleitet von lautstarken Protesten der Belegschaft. Strittig war: Wer investiert wie viel, was muss sich dafür im Betrieb ändern?

Dann hieß es vor einer Woche: Die Kuh ist vom Eis, es gibt einen Durchbruch - endlich. Nach einem jahrelangen Konflikt hatten sich Landesregierung, UKGM-Geschäftsführung und der Klinikbetreiber Rhön geeinigt und ein "Zukunftspapier" entwickelt. Im Januar sollen die Verhandlungsergebnisse vertraglich festgemacht werden.

70 Prozent der Mitarbeiter unterschreiben Erklärung

Vom Tisch sind damit allerdings noch lange nicht alle Probleme am UKGM, zumindest wenn es nach der Gewerkschaft Verdi geht. "100 Tage - die Zeit läuft," war am Mittwochnachmittag auf vielen Plakaten bei Kundgebungen in Marburg und Gießen zu lesen. Verdi übergab eine Absichtserklärung an die Geschäftsführung und das Land, nach Angaben der Gewerkschaft unterzeichnet von über 70 Prozent der UKGM-Belegschaft.

Protestierende Menschen mit großem kleinbedruckten Schild

In der Erklärung wird nach nach dem "Zukunftspapier" nun ein konkreter "Entlastungstarifvertrag" für die Mitarbeitenden gefordert, ähnlich wie es das bereits an einigen großen Kliniken gibt, etwa in Jena, Berlin und - als erster Klinik in Hessen - inzwischen auch am Frankfurter Universitätsklinikum. Laut Verdi kamen zur Kundgebung in Marburg 400 Beschäftige, in Gießen seien es 500 gewesen. Mit der Übergabe setzte Verdi dem UKGM eine hunderttägige Frist, um einen entsprechenden Tarifvertrag zu entwickeln. Ansonsten könne es erneut zu Streiks kommen.

"Das Personal muss es ausbaden"

Der Marburger Gewerkschaftssekretär Fabian Dzewas-Rehm erklärt: Es gehe einerseits darum, weitere Ausgliederungen zu vermeiden, insbesondere für nicht-pflegerische Bereiche. Zudem wolle man erreichen, dass sich die Arbeitsbedingungen deutlich verbessern, indem verbindlichere Personalmindeststandards festgelegt werden als bisher. So gebe es bislang nur für ausgewählte Arbeitsbereiche Personaluntergrenzen, dies seien jedoch aus Sicht von Verdi keine Qualitätsstandards, sondern sollten lediglich "gefährliche Pflege" vermeiden.

Der Verdi-Sprecher kritisiert: Bisher habe es so gut wie keine Konsequenzen für die Klinik, wenn solche Untergrenzen unterschritten werden. "Außer, dass das Personal es dann ausbaden muss." Allein am Standort Gießen habe es in diesem Jahr rund 650 Überlastungsanzeigen gegeben. Die Gewerkschaft will erreichen, dass es für Überbelastung einen tariflich geregelten Ausgleich gibt, entweder in Geld oder Freizeit.

Ministerin Dorn nimmt Erklärung entgegen

Wissenschaftsministerin Angela Dorn (Grüne) nahm die Erklärung am Mittwoch in Gießen persönlich entgegen, selbst unterschreiben wollte sie allerdings nicht. Auf hr-Anfrage hatte Dorn vorab mitgeteilt: Das Land setze sich seit Jahren ein für die bestmögliche Gesundheitsversorgung der Patientinnen und Patienten, gute Bedingungen und Sicherheit für die Beschäftigten, starke Forschung und Lehre an einem zukunftsfähigen Universitätsklinikum.

Mit dem Zukunftspapier sei man einen entscheidenden Schritt vorangekommen. "Ich verstehe die Forderungen grundsätzlich gut und kann sie nachvollziehen", so Dorn. Dennoch müsste einen solchen Tarifvertrag die Geschäftsführung des UKGM verhandeln.

Die Geschäftsleitung des UKGM selbst wollte sich zu den Verdi-Forderungen bisher nicht äußern, weil sie im Detail noch nicht vorliegen würden. "Wir bitten um Verständnis, dass wir diese dann zunächst in Ruhe intern überprüfen und bewerten werden", hieß es.

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