Neue Lehrmethode in Marburg Medizinstudenten üben für die Notaufnahme mit Virtual Reality

Bauch abtasten, Blut abnehmen, Zugang legen: In Marburg können angehende Ärzte mit VR-Brillen die realen Bedingungen einer Notaufnahme erleben. Das soll sie besser auf Stresssituationen vorbereiten.
Video
Virtual Reality in der Notaufnahme

Die Patientin auf der Liege stöhnt vor Schmerzen. Seit ein paar Tagen habe sie Bauchweh, erzählt sie mit gepresster Stimme, jetzt werde es immer stärker. In der Notaufnahme wird die Patientin von Nadja Siebler behandelt, einer Marburger Medizinstudentin im neunten Semester.
Siebler befragt und untersucht die Frau zunächst: Sie tastet den Bauch ab, misst die Temperatur, macht Ultraschall. Als sie Blut abnehmen will, fällt ihr beim Durchsuchen der Schublade ein Röhrchen auf den Boden. Hektisch sucht die Studentin danach. Währenddessen bittet die Patientin auf der Liege immer vehementer um Hilfe. "Können Sie mir irgendwas geben?", fragt sie keuchend - zumindest virtuell.
Beeindruckende Detailtiefe
Siebler hat eine halbe Stunde Zeit, um die Frau zu behandeln - in einem virtuell Setting. Die Studentin steht mit einer Virtual-Reality-Brille (VR-Brille) auf dem Kopf in einem Kursraum im medizinische Ausbildungszentrum Maris (Marburger Interdisziplinäres Skills Lab). Siebler gestikuliert mit zwei Controllern in den Händen. Immer wieder läuft sie herum, bückt sich oder greift hoch oben in die Regale, holt ein Papier mit den Blutwerten der Patientin aus dem Drucker.

Im Halbkreis um Siebler herum sitzen sechs weitere angehende Ärztinnen und Ärzte. Sie verfolgen über eine Leinwand mit, was ihre Kommilitonin gerade in beeindruckender Detailtiefe und Grafik per 3D-Simulation erlebt. "Was könnte die Patientin haben?", fragt der Tutor, der das Seminar begleitet.
Unterrichtsmethode erstmals in Hessen
Die Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer werden bald ihr Praktisches Jahr beginnen, das dem theoretischen Medizinstudium folgt. Vorher sollen sie noch möglichst gut auf stressige Situationen oder komplizierte Entscheidungsprozesse vorbereitet werden. Im Maris finden sonst etwa Rollenspiel-Kurse mit Schauspielern oder Übungen an Puppen und Modellen statt.
Mit der neuen Unterrichtsmethode mit der VR-Brille wolle man nun noch einen Schritt weiter gehen, erklärt Professor Ivica Grgic, auf dessen Initiative die neuen Blockseminare in diesem Semester erstmals in Marburg durchgeführt werden. Damit sei man Vorreiter in Hessen.
"In der Praxis sollten nicht so viele Fehler passieren"
Der Internist und Nierenspezialist erklärt: "Die Studierenden können hier alle sinnvollen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen durchführen, die man für die erste Einschätzung in der Notaufnahme braucht." Das gehe vom EKG über die Blutgasanalyse bis zum Zuganglegen oder Anfertigen von Röntgenbildern. "Das kann man weder mit Schauspielpatienten noch mit Puppen abbilden", sagt Grgic.

Dieses Wissen könne man sich normalerweise nur in der Praxis aneignen. "Dort dann aber mit viel Verantwortung, da sollten nicht so viele Fehler passieren", sagt der Professor. Die 3D-Simulation schaffe einen geschützten Raum, wo angehende Ärzte auch mal Fehler machen und sich auf stressige Situationen besser vorbereiten könnten.
Aufwendige Software-Entwicklung
Die Philipps-Universität nutzt Software, die die Uniklinik Würzburg seit 2018 gemeinsam mit dem Münchner Start-Up ThreeDee entwickelt und als Prototyp bereits seit 2020 in der Lehre einsetzt. Marburg ist nun die zweite Fakultät in Deutschland, die damit solche VR-Brillen-Seminare anbietet.
Audio
VR-Brillen sind neue Lehrmethode in Marburg

Auch auf Entwicklungsebene kooperieren die Fakultäten miteinander. Es gehe derzeit zum Beispiel darum, noch mehr Fälle für die Simulation zu erfassen, so Grgic. Das sei im Detail sehr aufwendig und könne Monate dauern. "Das fängt ja schon damit an, wie man einen Patienten erscheinen lässt, etwa die Mimik oder das Hautkolorit", erläutert der Mediziner. Auch wie sich Werte durch die Behandlung verändern, müsse genau erfasst und getestet werden.
Studentin berichtet von "super-realer Erfahrung"
Die Studentin Nadja Siebler spricht nach der Übung von einer "super-realen Erfahrung". Sie habe vorher noch nie eine VR-Brille getragen. "Ich habe das nicht erwartet, aber es ist tatsächlich so, dass man sich richtig reindenkt und in einen Flow kommt, je länger das Szenario dauert", berichtet sie.

Was genau die Schmerzen der Patientin im oben geschilderten Beispiel verursachte, konnten die Medizinstudierenden während der Übung übrigens nicht vollständig diagnostizieren. "Die Blutwerte legen eine Entzündung der Bauchspeicheldrüse mit Gallenbeteiligung nahe", sagt Siebler. Eine weitere Untersuchung könne weitere Aufschlüsse geben - allerdings erst in 72 Stunden.
Falls die Patientin dann eine Operation bräuchte, stieße die VR-Technik allerdings noch an ihre Grenzen. Die Haptik sei dafür noch nicht gut genug entwickelt, meint Professor Grgic. Aber er ist sich sicher: Das dauert auch nicht mehr lange.
Anmerkung der Redaktion: In der aktuellen Version dieses Artikels wurde die urheberrechtliche Zuordnung der Software "STEP.VR" und des Seminarkonzepts präzisiert. Diese beruht auf einer Zusammenarbeit des Mediziners Tobias Mühling von der Uniklinik Würzburg mit dem Münchner 3D-Startup ThreeDee.