Marburger Projekt Wie Carsharing auf dem Dorf funktionieren kann

Während Carsharing in Städten boomt, gibt es auf dem Land bisher kaum Angebote. In der Umgebung von Marburg soll sich das ändern. Aber gibt es in Haushalten mit zwei oder mehr Autos überhaupt Bedarf dafür?
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Carsharing auf dem Land

Eigentlich stinken ihm Autos. "Ich bin einer von den Grannies for future", sagt Peter Kolditz und grinst. Mit seinem grauen Vokuhila und den mehrfach gepiercten Ohren ist er auch mit knapp 70 Jahren vor kurzem noch Veganer geworden. Das Problem: Wenn Kolditz zur Klima-Demo will, muss er dafür immer noch in seinen alten Twingo steigen. Denn ohne eigenes Auto kann er selbst nicht leben - zumindest nicht in seinem Dorf Elnhausen.
In dem ländlichen Marburger Stadtteil leben rund 1.000 Menschen. Selbst für Idealisten wie Kolditz ist ein Verzicht aufs Auto in Regionen wie dieser bisher kaum zu realisieren. Es gibt zum Beispiel weit und breit keine Bank mehr, erzählt er, seit einiger Zeit noch nicht mal mehr einen Geldautomaten. "Ohne Auto komme ich also zum Beispiel an kein Bargeld", sagt Kolditz.

Der öffentliche Nahverkehr habe sich in den letzten Jahren zwar schon verbessert. "Aber Freunde in den Nachbarorten zu besuchen, das ist mit dem Bus immer noch total umständlich." Kolditz wäre durchaus bereit, sich ein Auto mit anderen zu teilen. "Und es gäbe hier ja mehr als genug", meint er und zeigt auf die Autos, die mit Blick aufs Feld am Straßenrand parken.
Kaum Carsharing auf dem Land
Carsharing auf dem Land ist allerdings immer noch eine äußerste Seltenheit. Zahlen des Bundesverbands Carsharing zeigen: Während es inzwischen in so gut wie allen Großstädten und den meisten mittelgroßen Städten Anbieter gibt, ist das nur in 4,6 Prozent der Gemeinden mit unter 20.000 Einwohnern der Fall.
Auch in Marburg gibt es bisher nur in der Kernstadt Carsharing-Autos eines kommerziellen Anbieters. Deshalb will die Stadt nun selbst aktiv werden und auch in vier ländlich gelegenen Außenstadtteilen eine Infrastruktur aufbauen, neben Elnhausen noch in Dagobertshausen, Moischt und Ginseldorf.
"Geht nur mit ehrenamtlichem Engagement"
Peter Reckling ist Ortsvorsteher von Dagobertshausen und Sprecher der Mobilitäs-AG, die das Projekt angestoßen hat. Reckling erklärt: Die Stadt will die Angebote finanziell bezuschussen, aber ohne ehrenamtliches Engagement vor Ort werde es nicht gehen. In Moischt habe sich zum Beispiel schon der Dorfladen bereit erklärt, die Organisation in die Hand zu nehmen. Dort sollen zwei neue Elektroautos angeschafft werden.
In Elnhausen und Dagobertshausen will man dagegen auf das sogenannte Peer-to-Peer-Carsharing setzen. "Hier ist die Idee, dass Menschen ihre privaten Zweitfahrzeuge zur Verfügung stellen, die dann andere über ein Onlinesystem buchen und mitbenutzen können", sagt Reckling. Drei Jahre wolle die Stadt die Mehrkosten für die Versicherung und das Buchungssystem bezahlen. "Und dann schauen wir, wie das angenommen wird."
Mobilitätsforscherin: Menschen spüren geringen Handlungsdruck
Die Kasseler Mobilitätsforscherin Melanie Herget hat schon verschiedene ländliche Carsharing-Modellprojekte begleitet. Sie erklärt: Das mangelnde Angebot liege vor allem an der Bevölkerungsdichte, die diese Regionen für kommerzielle Anbieter deutlich unattraktiver mache als etwa Großstädte oder Verkehrsknotenpunkte in Mittelzentren.
Aber nicht nur das Angebot spielt eine Rolle, sondern auch die Nachfrage: "Anders als in der Stadt sind es Menschen auf dem Land bisher nicht gewohnt, ihre Mobilität zu planen und nach Verfügbarkeit auszurichten", erklärt Herget. Oft seien der öffentliche Nahverkehr und die Radwegenetze nicht gut genug ausgebaut, um eine echte Alternative zu sein. "Der Handlungsdruck und das Gefühl, ohne Auto leben zu können, ist also ganz anders."
Carsharing kann bis zu zehn Fahrzeuge ersetzen
Dennoch ist Herget überzeugt: Es ist durchaus möglich, dass sich ländliche Carsharing-Modelle langfristig tragen können, die etwa auf Vereinen oder kommunalen Strukturen basieren. Wichtig sei, dass man solche Konzepte auch anhand von Nutzungsanalysen vorab erstelle.
Herget erklärt: Es brauche für den Erfolg solcher Projekte immer eine gewisse Anzahl von "Ankernutzern", also Menschen, die sich mit einer gewissen Verbindlichkeit bereit erklären, das Carsharing-Auto dann auch zu nutzen. "Sonst bleibt es ein Angebot, das zwar nice-to-have ist, aber einfach nur Geld frisst."
Grundsätzlich müsse man sich zudem im Klaren sein, dass es in solchen Regionen eher um den Verzicht auf ein Zweit- oder Drittfahrzeug gehe als um den kompletten Autoverzicht. Je nach Nutzung könne ein Car-Sharing-Auto dann aber sogar acht bis zehn Privatfahrzeuge ersetzen.
"Es gibt hier Familien mit fünf Autos"
Diese Herausforderung kennt auch Pia Heidenreich-Hermann aus Ortenberg-Effolderbach (Wetterau). Vor zwei Jahren hat sie ein Carsharing-Projekt im 500-Einwohner-Dorf mit angeschoben. Was damals mit viel Elan und medialem Echo begann, habe sich inzwischen als durchaus "mühsames Geschäft" herausgestellt, berichtet sie. "Die beiden E-Autos werden zwar genutzt, aber bisher nicht genug, um die Kosten für Versicherung, Leasing und die Buchungsplattform zu tragen." Ohne Förderprogramme würde es nicht gehen, meint sie.

Grundsätzlich sei bei vielen Menschen im Ort durchaus Bereitschaft da. Dennoch seien viele einfach sehr daran gewöhnt, immer ein eigenes Auto zur Verfügung zu haben. "Hier in meiner Straße wohnt eine Familie mit drei erwachsenen Kindern, die haben fünf Autos vor der Tür", sagt sie. Selbst Neunzigjährige würden oft ungern ihr Auto abgeben, um nicht das Gefühl von Flexibilität zu verlieren.
Mit dem Carsharing-Auto in die Umweltzone
28 registrierte Fahrerinnen und Fahrer gibt es bisher für die beiden Effolderbacher Dorfbeweger-Autos. Heidenreich-Herrmann beobachtet dabei ganz unterschiedliche Motivationen: Eine junge Familie verzichte zum Beispiel aus Umweltgründen bewusst auf ein Zweitauto. Ein anderer Nutzer besitze nur einen Sportwagen mit zwei Sitzen und nehme das Carsharing-Fahrzeug, wenn seine Kinder zu Besuch kommen. Besonders ungewöhnlich sei der Grund eines sporadischen Fahrers: "Dessen eigenes Auto hat keine grüne Plakette, er nimmt das E-Auto, wenn er nach Frankfurt in die Umweltzone will."
Für die Ehrenamtlichen bedeute das Dorf-Carsharing dagegen auch viel Arbeit: Alle zwei Wochen müssten die Autos gereinigt und durchgecheckt werden, hinzu komme der Verwaltungsaufwand. "Wir fragen uns gerade tatsächlich, ob und in welcher Form wir damit weitermachen wollen", meint Heidenreich-Herrmann.
Im Raum Marburg ist man dagegen noch ganz am Anfang und mitten in der Planung. Und Peter Kolditz ist zumindest innerlich schon als Nutzer an Bord: Er kann sich gut vorstellen, seinen Twingo dann komplett loszuwerden. Seine Partnerin und er seien zudem nun in Rente. "Das Auto ist ja nicht nur eine Umwelt-, sondern auch eine konkrete Finanzbelastung – die können wir uns gerne sparen."
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Marburg startet Carsharing-Projekt in Außenstadtteilen
