Martha-Lesse-Straße ist mehr als nur Asphalt Bad Nauheim benennt neue Straße nach jüdischer NS-Vertriebener
Im Bad Nauheimer Stadtteil Rödgen gibt es eine neue Straße: die Martha-Lesse-Straße. Sie ist benannt nach einer jüdischen Frau, die mit ihrer Familie vor dem NS-Regime geflohen ist. In Rödgen mussten die Lesses alles zurück lassen.
Im Bad Nauheimer Stadtteil Rödgen (Wetterau) hat eine neu gebaute Straße in einem Neubaugebiet ihren Namen erhalten - so weit, so normal. Doch die Martha-Lesse-Straße ist mehr als nur Asphalt: Sie ist ein deutliches Zeichen gegen Antisemitismus.
Benannt ist die Straße nach einer jüdischen Vertriebenen, die es geschafft hat, im Jahr 1939 mit ihrer Familie vor dem NS-Regime zu flüchten und sich in den USA ein neues Leben aufzubauen. Sie hatte Glück. Anders als mehr als sechs Millionen jüdische Menschen, die von den Nazis verfolgt, verhaftet und ermordet wurden.
Einstimmiger Beschluss für die Martha-Lesse-Straße
Martha Lesse lebte in den 1930er Jahren in Bad Nauheim. Sie betrieb mit ihrer Familie eine Hühnerfarm unweit des heutigen Neubaugebiets "auf dem Holzberg" und besaß ein Großteil des Landes in Rödgen. Daher kam auch die Idee, die neue Straße nach ihr zu benennen.
Der Beschluss der Stadtverwaltung fiel einstimmig aus. "Bad Nauheim hat eine sehr lebendige jüdische Gemeinde. Daher sind wir stolz, dass die Geschichte einer jüdischen Familie, die von hier aus vor der Deportation fliehen musste, wieder in Rödgen präsent ist", sagte Bürgermeister Klaus Kreß (parteilos).
Oma Martha war Vorbild für ihre Enkelinnen
Zu Ehren ihrer Groß- und Urgroßmutter sind sogar die Enkel- und Urenkeltöchter von Martha Lesse in die Wetterau gereist. "Es ist eine große Ehre. Unsere Großmutter war eine wundervolle, herzensgute Frau", sagt Barbara Lin, eine der drei Enkelinnen. "Sie ist 98 Jahre alt geworden und hatte ein glückliches Leben. Sie hat nie zurückgeschaut, immer nur nach vorne." Als sie den Brief der Stadt Bad Nauheim bekommen hat, sagt Lin, habe sie nicht zweimal überlegen müssen. Sie habe sofort ihre Sachen gepackt und sei in Atlanta, Georgia (USA) in den Flieger gestiegen.
Die älteste der drei Schwestern, Louise Lesse, trägt sogar heute noch den Familiennamen zu Ehren ihrer Großmutter. Obwohl sie seit über 50 Jahren verheiratet ist. "Ihr Leben hat sich nur um uns drei Schwestern gedreht. Und sie begleitet uns noch immer. Ich bin als Kind lieber zu ihr gegangen, als etwas mit meinen Freunden zu machen. Trotz all dem, was sie durchgemacht hat, hat Martha uns immer aufgemuntert und gesagt, dass es immer schlimmer sein kann."
Ausgegrenzt, beschimpft und verhaftet
Martha und Alfred Lesse hatten in den 1930er Jahren neben der Hühnerfarm in der Wetterau ein Textilgeschäft in Frankfurt. Sie waren geschätzte Bürger, boten einen sicheren Arbeitsplatz, und die zwei Söhne, Georg und Walter, gingen zur örtlichen Schule. Sie waren "weltliche Juden", erzählt die Familie. Sie gingen nicht regelmäßig in die Synagoge, hielten sich nicht immer an die Regeln für koscheres Essen und sie trugen auch keine Kippa.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde die Familie zunehmend ausgegrenzt, durfte nicht mehr im Dorf einkaufen und wurde beschimpft. Ihre Farm wurde zudem mehrfach angegriffen. Kurz vor der Flucht mussten Martha und Alfred Lesse ihre Besitztümer zu einem Spottpreis verkaufen. Nach der Pogromnacht am 9. November 1938 ist Alfred Lesse schließlich von den Nazis verhaftet worden. Er kam in ein Internierungslager.
Martha konnte ihren Mann befreien
Martha Lesse konnte ihren Ehemann aus dem Lager befreien, indem sie das Eiserne Kreuz für dessen Verdienste im Ersten Weltkrieg vorzeigte. Über Glasgow floh die Familie in die USA. Sohn Walter ertrank auf der Flucht. Sein Bruder Georg baute sich in Columbus, Georgia ein neues Leben auf und zog drei Töchter auf, die mittlerweile auch einige Kinder haben.
Zum Beispiel Sarah Roden. Über die 30-Jährige kam der Kontakt zwischen den Angehörigen und der Stadt Bad Nauheim zustande. Sie reiste aus Shanghai (China) an, um ihre Ururoma zu ehren. "Wir sind sehr überrascht, denn wir wussten nicht viel über Marthas Zeit in Deutschland. Dieses Kapitel war etwas, an das sie sich nicht gerne erinnern wollte", sagt Roden bei der Einweihung der Straße. "Aber wir freuen uns sehr, dass Bad Nauheim die Erinnerung an Martha am Leben hält, damit so etwas Grausames wie damals nie wieder passiert."
Neue Straße soll für mehr Akzeptanz werben
Die Martha-Lesse-Straße soll den Menschen in Rödgen bewusst machen, was in der NS-Zeit in der Region passiert ist, sagt Ortsbeirätin Gisela Babitz-Koch. "Wir dürfen nicht vergessen, dass es Leute hier im Ort waren, die durch Wegschauen oder Ausgrenzen dazu beigetragen haben, dass jüdische Menschen aus Deutschland vertrieben worden sind." Babitz-Koch hat die Straßenbenennung maßgeblich auf den Weg gebracht.
Der Vorsitzende der örtlichen Jüdischen Gemeinde, Manfred de Vries, sieht die neue Straße in Rödgen als Chance, um für mehr Akzeptanz in der Gesellschaft zu werben. "Das Problem ist, dass es immer noch viele Menschen gibt, die diskriminiert werden, nur weil sie anders aussehen oder an etwas anderes glauben", sagt de Vries, dessen Familie viele Mitglieder in Konzentrationslagern verloren hat. "Wir dürfen die Vergangenheit nie vergessen, deswegen sind die Namen und die Geschichten von Menschen wie Martha Lesse so wichtig."