"Sache der gesamten Gesellschaft" Mehr Kindesmisshandlung in der Pandemie - was wir dagegen tun können
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Zahl der Kindesmisshandlungen auf Höchststand

Die Fälle von Kindesmisshandlungen nehmen in der Pandemie zu. Hauptursache: überforderte Eltern. Sozialarbeiter können nicht so genau hinschauen wie gewohnt. Expertinnen finden: Alle müssen dazu beitragen, gefährdete Kinder zu schützen.
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Die Großmutter hat kurz vor Silvester 2020 kein gutes Gefühl. Ob ihre kleine Enkeltochter bei ihren Eltern wirklich gut aufgehoben ist? Im neuen Jahr, so sagt sie, will sie sich ans Jugendamt wenden. "Sie werden sie schon nicht totschlagen", entgegnet ihr Mann. Kurz darauf ist Hailey tot. Sie wird nur acht Wochen alt. Der Notarzt, der am Neujahrsmorgen 2021 in die kleine Wohnung ihres Vaters im Wiesbadener Stadtteil Mainz-Kostheim gerufen wird, kann das Baby nicht mehr retten.
Die Frankfurter Rechtsmedizinerin Sarah Kölzer obduziert Hailey und stellt zahlreiche alte und neue Rippenbrüche, Hämatome an Brust und Stirn, Verletzungen an Nacken und Mund fest. Ihr Gutachten für den Prozess gegen den 23 Jahre alten Vater vor dem Landgericht Wiesbaden lässt keine Zweifel: Das Kind ist mehrfach schwer misshandelt worden und schließlich durch "Verschluss der Atemorgane durch die Hände" erstickt worden.

Sozialarbeiter sollen nur allernotwendigste Kontakte halten
Hätte Hailey ohne Pandemie, ohne Kontaktbeschränkungen, ohne Lockdown gerettet werden können? 152 Kinder und Jugendliche sind im ersten Pandemiejahr in Deutschland laut Kriminalstatistik gewaltsam zu Tode gekommen - 36 Prozent mehr als im Jahr zuvor. In Hessen wurden 2020 nach Auskunft des Bundeskriminalamts sechs Kinder getötet, doppelt so viele wie 2019.
"Von einem Tag auf den anderen musste alles in den häuslichen vier Wänden stattfinden", sagt die Frankfurter Familienforscherin Sabine Andresen. Die Pandemie bringe viele Eltern an ihre Grenzen und führe zu Konflikten.

Und die Stellen und Institutionen, die normalerweise Familien unterstützen, können bis heute nur eingeschränkt arbeiten, Familien nicht regelmäßig besuchen, nur wenige Gespräche persönlich führen. Noch immer, sagt Vivian Osterhoff, eine Sozialarbeiterin im Jugendamt Wiesbaden, seien sie angehalten, "wirklich nur die notwendigsten Kontakte persönlich" zu halten.
Kinder können sich allein nicht befreien
Fast 61.000 Meldungen von Kindeswohlgefährdungen gab es im ersten Pandemiejahr 2020, rund zehn Prozent mehr als 2019. Auch in Hessen gingen die Zahlen der gemeldeten Fälle von Misshandlung (von 279 auf 309) und sexueller Gewalt gegen Kinder (von 959 auf 1.025) nach oben.
Und das, obwohl Kitas und Schule im Lockdown zeitweise geschlossen waren - die Institutionen, die für gewöhnlich zuerst Alarm schlügen, wenn Kinder gefährdet seien, erzählt die Sozialarbeiterin. In der Pandemie hätten das vermehrt Nachbarn übernommen.
hr-Thema: Gewalt gegen Kinder in der Pandemie - was tun?
In der Corona-Pandemie ist die Zahl der Kindesmisshandlungen auf einen Höchststand gestiegen. Es ist für Behörden schwieriger, Kinder und Jugendliche vor Gewalt zu schützen. Homeoffice und Homeschooling bedeuten zusätzlichen Stress. Nicht alle Eltern waren und sind dem gewachsen.
Dennoch: Es gibt für diese Eltern Hilfen, so dass es nicht zwangsläufig zu Gewalt kommen muss. Der hr macht am 3. Februar Gewalt gegen Kinder in der Pandemie und mögliche Hilfen auf allen Ausspielwegen zum Thema.
Doch viele Misshandlungen blieben unentdeckt, sagt Osterhoff. Wir dürften nicht nur auf das sogenannte Hellfeld, also die gemeldeten Fälle, schauen, sagt Familienforscherin Andresen. Kinder und Jugendliche könnten sich nicht allein aus einer gewalttätigen Situation in der Familie befreien.
Bis zu zehn Fälle in der Kinderschutzambulanz Frankfurt - pro Woche
So wie Hailey. Das Baby habe viel geschrien, die jungen Eltern wirkten überfordert, aber "eigentlich war alles ganz normal", sagen die meisten Freunde und Familienmitglieder vor Gericht aus.
Eine Bisswunde auf der Wange wird vor einem Besuch beim Jugendamt - als der Vater seine Vaterschaft anerkennen soll - überschminkt. Sie sei Folge einer zu innigen Liebkosung des Vaters, erzählen die Eltern der Großmutter, die zwar misstrauisch wird. Aber letztlich akzeptiert sie die Erklärung der Eltern für die Verletzung, und auch der Kinderarzt tut das.

Seit Beginn der Pandemie sind die Möglichkeiten von Pädagogen, Sozialarbeitern, Kinderärztinnen und Kinderärzten eingeschränkt, um Kontakt zu prekären Familien zu halten. "Wie häufig wurden Kinder von behandelnden Ärzten, von Erziehern oder Lehrern, die mögliche Verletzungsfolgen hätten erkennen können, einfach nicht gesehen?", fragt sich die Rechtsmedizinerin Sarah Kölzer.
Bis zu zehnmal in der Woche untersucht sie in der Kinderschutzambulanz an der Frankfurter Uniklinik verdächtige Verletzungen bei Kindern und Jugendlichen. Damit hilft sie Jugendämtern zu prüfen, ob ein Kind tatsächlich misshandelt worden ist, aus der Familie herausgenommen werden muss.
Lieber eine Meldung zu viel als zu wenig
Bundesweit wurden im ersten Pandemiejahr rund 45.000 Kinder und Jugendliche in Obhut genommen. "Das ist immer das letzte Mittel", sagt Sozialarbeiterin Osterhoff, wenn ein Kind akut in Gefahr sei und nicht anders geschützt werden könne. Für alle Beteiligten, aber vor allem für die Kinder sei das eine belastende Situation. Es koste Kinder und Jugendliche "eine große Überwindung, sich überhaupt irgendjemandem anzuvertrauen".
Anlaufstellen für Kinder, Eltern und Nachbarn
- Informieren Sie bei Gewalt in Familien die Polizei unter 110
- Für Eltern:
Anonyme Telefonseelsorge: 0800/1110111 und 0800/1110222
Elterntelefon der "Nummer gegen Kummer": 0800/1110550
Hilfetelefon Sexueller Missbrauch: 0800/2255530 oder Online-Beratung unter nina-info.de
"Werkzeug für Familien" gegen Stress hier
- Für Kinder:
Kinder- und Jugendtelefon der "Nummer gegen Kummer": 0800/1110333
Kinder- und Jugendtelefon 116111
Deswegen müsse die Gesellschaft - wir alle - sensibler werden und genauer hinschauen, fordert Familienforscherin Sabine Andresen. Sie appelliert etwa an Nachbarn, sich bei Verdacht auf Kindesmisshandlung in ihrer Umgebung an die Behörden zu wenden. Natürlich will sie nicht zum Denunziantentum aufrufen. Aber lieber eine Meldung zu viel als zu wenig, sagt sie.
Ansprechpartner für Kinder weggebrochen
In der Pandemie sei alles in die Familien hineinverlagert worden, sie stünden vor außerordentlichen Herausforderungen, die viel zu wenig gesehen würden, mahnt Andresen. Zudem seien besonders für Kinder und Jugendliche viele Ansprechpartner und Vertrauenspersonen außerhalb der Familie weggebrochen.
Die Sozialarbeiterin Vivian Osterhoff ermutigt auch überforderte Eltern selbst, sich an das Jugendamt zu wenden. Das Amt habe zu Unrecht einen schlechten Ruf. Zuallererst bekämen Familien dort Hilfe. Eltern müssten nicht befürchten, dass ihnen gleich das Kind weggenommen werde.
Mit Blick auf die Zukunft wünscht sich die Familienforscherin Andresen ein gesellschaftliches Klima, in dem Kinder sich trauen darüber zu sprechen, wenn Schlimmes in ihrer Familie passiert. "Wir müssen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Kinder und Jugendliche Rechte haben", fordert auch die hessische Kinderrechtsbeauftragte Miriam Zeleke.
Kinderrechte-Monitoring in Hessen
Immerhin: In der hessischen Verfassung seien die Rechte von Kindern und Jugendlichen bereits stärker als in allen anderen Bundesländern verankert. In einem Pilotprojekt soll es in Hessen als erstem Bundesland nun ein Kinderrechte-Monitoring geben. Damit diese nicht nur in der Verfassung stehen, sondern auch umgesetzt werden, wie Zeleke erläutert.
Hailey ist nur acht Wochen alt geworden. Sie konnte noch nicht reden. Das hätten andere für sie tun können, tun müssen. Aus der Familie, aus dem Umfeld hat das niemand übernommen. Bis zum Schluss, wie die Richterin am Ende des Gerichtsprozesses in Wiesbaden feststellte. Der junge Vater wurde im November zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt.