Lebensmittel liegen auf dem Band an einer Kasse in einem Supermarkt. (dpa)

Ein Supermarkt in Heusenstamm macht für zwei Stunden alles anders: keine dröhnende Musik, keine Durchsagen, sogar das Kassenpiepen wird leiser. Das alles, um reizempfindlichen Menschen einen angenehmen Einkauf zu ermöglichen - offenbar eine Neuheit in Hessen.

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"Stille Stunde" im Supermarkt

Mann im Supermarkt
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Die Kasse piept, die Musik dröhnt und aus dem Lautsprecher schallt: "Frau Müller, bitte die drei, Frau Müller, bitte". Was für viele normal erscheint, gar zu einem Einkauf dazugehört, kann für reizempfindliche Menschen zur Tortur werden.

Ein Supermarkt in Heusenstamm (Offenbach) führt daher am Mittwoch eine "Stille Stunde" ein.

Genau genommen sind es sogar zwei "Stille Stunden": Jeden Mittwoch von 15 bis 17 Uhr soll im Rewe-Markt in der Frankfurter Straße auf Lautsprecherdurchsagen und Musik verzichtet werden. Außerdem werden in dieser Zeit die Lichter gedimmt, Kassentöne auf das Mindeste reduziert und keine Regale eingeräumt. Zuerst hatte op-online.de darüber berichtet.

Gegen Reizüberflutung

Rainer Marx vom Behindertenbeirat der Stadt Offenbach hatte sich mit der Idee an die Supermarktleitung gewandt. Ein Betreuer zweier Menschen mit Autismus habe ihm gegenüber den Wunsch geäußert, ob man so etwas nicht in der Gegend einführen könne. Die Idee selbst stamme aus Neuseeland.

"Für Menschen aus dem autistischen Formenkreis ist es eine Qual einkaufen zu gehen", erklärt Marx. Das könne sich ganz verschieden äußern. Manche würden durch grelles Licht gestört, andere von Durchsagen oder lauter Musik.

Man wolle damit aber nicht nur Autisten helfen: Es gebe viele Menschen, die gerne beim Einkaufen Ruhe haben möchten. Dies könnten auch Senioren sein, die sich von Musik gestört fühlen, Alzheimer-Patienten, Menschen mit psychischen Problemen oder mit posttraumatischer Belastungsstörung - für alle diese Menschen sei es eine Wohltat, so Marx.

Regale sollen möglichst nicht eingeräumt werden

Sedat Tekin, Geschäftsführer des Heusenstammer Supermarkts, spricht von einer "super Idee". Als der Wunsch an ihn herangetragen worden sei, habe er nicht lange überlegen müssen. Seine Marktleiterin habe ihn bestärkt: "Chef, ich wäre sauer gewesen, wenn Sie das abgelehnt hätten", habe sie zu ihm gesagt.

Man wolle innerhalb der zwei Stunden "nur das Nötigste" machen. Die Arbeit solle möglichst vorher erledigt sein - keine Container, keine Hubwagen wolle man dann durch die Gänge schieben. "Die Mitarbeiter stehen felsenfest dahinter, und wir freuen uns darauf, dass wir so was durchführen", so Tekin.

Hessenweit wohl erster Supermarkt mit "Stiller Stunde"

Eine hr-Abfrage ergab, dass der Supermarkt in Heusenstamm damit wahrscheinlich der erste in Hessen ist, der eine "Stille Stunde" eingeführt hat.

Sowohl bei den Supermarktketten Tegut und Lidl ist kein gesondertes beruhigtes Einkaufen geplant. Auch dem Einzelhandelsverband Hessen-Nord ist kein Supermarkt bekannt, der das in Hessen bereits umgesetzt hat.

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"Stille Stunde" in einem Supermarkt in Heusenstamm

Lebensmittel liegen auf dem Band an einer Kasse in einem Supermarkt. (dpa)
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Auch bei Rewe kennt man keinen anderen hessischen Supermarkt in Hessen mit solch einem Konzept. Es gebe allerdings deutschlandweit andere Märkte, die das Konzept verfolgten. Außerhalb Hessens gibt es etwa einen Edeka-Markt in Konstanz, der im März eine "Stille Stunde" eingeführt habe.

Behindertenbeirat zufrieden

Rainer Marx vom Behindertenbeirat kennt bislang auch keinen weiteren in Hessen. Er ist bereits mit einem Supermarkt in Rosbach (Wetterau) im Gespräch. Möglich also, dass die Stille auch andernorts auf offene Ohren stößt.

Ihn freut das: "Menschen, die sonst ungerne einkaufen gehen, weil sie spezielle Probleme haben und sehr reizempfindlich sind, können jetzt einkaufen gehen und müssen sich nicht unwohl dabei fühlen."

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83 Kommentare

  • Regaleinräumer sind für mich das Lästigste und Störende was es gibt, weil ich eine Gehbeeinträchtigung habe und freie Bahn brauche. Daher wäre 4 stille Stunden zu je zwei Blöcken wünschenswert, wo eben auch weniger Stoßzeiten sind.

  • Sehr schöne Idee auf dem Weg zu mehr Inklusion. Man ist in dieser schnellen lauten Welt sowieso permanent vor n Sinneseindrücken überlastet und im Supermarkt prasseln auch so schon genug Eindrücke meist visueller Art auf einen ein,

  • Ich hatte mal einen Hörsturz mit anschließendem Tinnitus. Seitdem habe ich überempfindliche Ohren (Hyperakusis). Ich halte es deshalb nicht lange im Supermarkt oder im Kaufhaus aus. Aber zum Glück gibt es ja Aldi und Lidl. Dort geht das Geschäft ja auch ohne Musikberieselung gut. Auch im Fitness-Studio läuft dauern das Radio. Wenn ich es nicht aushalte, stecke ich mir Stöpsel in die Ohren. Aber dann fangen irgendwann die Ohren zu pfeifen an... Für eine stille Stunde bei Rewe & Co. wäre ich wirklich sehr dankbar. Auch in Restaurants wird man dauernd mit Musik "beglückt", das ist wirklich nervig. Ich habe schon manches Restaurant wieder verlassen, weil mich die Musik gestört hat. Sogar mein Zahnarzt meint, mich mit Musik beglücken zu müssen. Als ich ihn bat, die Musik auszumachen, sagte er, das ginge nicht... Es gibt übrigens eine Verein gegen die dauernde Musikbeschallung (Pipedown), aber der richtet auch nicht viel aus.

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