90 Prozent der Bahnhöfe in Hessen sind laut Landesregierung "stufenfrei". Doch die Statistik täuscht: Auch dort kommen Rollstuhlfahrer nicht immer zu den Zügen. Ein besonders absurdes Beispiel ist Hochheim am Main.

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Probleme für Rollstuhlfahrer gibt es an vielen Bahnhöfen

EIn Rollstuhlfahrer steht am Fuß einer Treppe, die nach oben zu einem Bahnsteig führt und blickt nach oben.
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29 Stufen trennen Gerd Ruttau von Gleis 2 des Bahnhofs Hochheim am Main. Dort fährt gleich die S-Bahn nach Frankfurt. Aber die kann er nicht nehmen, denn er steht mit seinem E-Rollstuhl in der Unterführung, am Fuß der Treppe. Diese ist für Ruttau ein unüberwindbares Hindernis, einen Aufzug oder eine Rampe gibt es nicht. An diesem Bahnhof ist nur Gleis 1 ebenerdig erreichbar. Ruttau findet das "ein absolutes Unding" in dieser Zeit, in der so viel von Inklusion geredet werde.

Ruttau lebt seit Jahrzehnten in Hochheim, und lange Zeit im Antoniushaus. Dort werden rund 300 mobilitätseingeschränkte Menschen betreut. Die Stadt hat sich weitgehend auf sie eingestellt, Busse und öffentliche Gebäude sind meist barrierefrei. Nur am Bahnhof kommen Rollstuhlfahrer nicht weiter, wenn sie zu Gleis 2 wollen, die Treppe ist im Weg.

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Der "Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung" findet am 5. Mai statt. Der Aktionstag wurde 1992 von den Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben Deutschland (ISL) ins Leben gerufen und wird jährlich begangen.

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"Stufenfrei" bedeutet nicht, dass es keine Stufen gibt

Das Hessische Verkehrsministerium führt den Bahnhof Hochheim in seiner Statistik trotzdem als "stufenfrei", wie ein Sprecher dem hr erklärt. Dieses Kriterium sei für das Ministerium bereits erfüllt, wenn - wie in Hochheim - nur eines der Gleise stufenfrei erreichbar ist, ganz gleich, wie es an den anderen Gleisen aussieht. "Aus Gründen der Vereinfachung", heißt es zur Erklärung.

Georg Gabler vom Hessischen Landesbehindertenrat nennt das einen "Treppenwitz" und eine "Mogelpackung". Gehbehinderte könnten dann, wie in Hochheim, nur in eine Richtung abfahren. Es müssten aber sämtliche Gleise ohne Stufen erreichbar sein. Kritik an der offiziellen Statistik des Landes gab es auch schon beim strengeren Kriterium "barrierefrei", das neben stufenfreien Bahnsteigen auch den Einstieg in den Zug umfasst. Auch die Barrierefreiheit ist nicht überall gegeben.

Fast jeder vierte Bahnhof ist ein Risiko für Rollstuhlfahrer

Definiert man "stufenfrei" wirklich im Wortsinn als "ohne Stufen", dann sinkt der Anteil der Bahnhöfe, die das erfüllen, erheblich. Nach einer hr-Recherche verdienen dann statt 90 Prozent nur noch 77 Prozent der Stationen in Hessen dieses Prädikat. Denn bei fast jedem vierten der rund 500 Bahnhöfe in Hessen ist an bestimmten Gleisen Treppensteigen angesagt - oder eben nicht, wenn man zum Beispiel in einem Rollstuhl sitzt.

Für Gerd Ruttau sind alle Bahnhöfe, die Treppen haben, ein Risiko - das Bahnfahren wird zum Roulette. Denn er hat erlebt, dass sein Zug in Hochheim nicht wie geplant am stufenfreien Gleis hielt. Wäre er dort ausgestiegen, hätte für ihn kein Weg vom Gleis runter geführt. Von Frankfurt kommend musste er also Richtung Wiesbaden weiterfahren und dann mit dem Bus nach Hochheim zurück. Zeitverlust: Rund eine Stunde.

Fast 600 Millionen Euro für Bahnhöfe geplant

Die Angst vor den Stufen könnte Ruttau nur die Bahn nehmen, wenn sie den Hochheimer Bahnhof komplett mit Aufzügen oder Rampen ausrüsten würde - was nach Auskunft der Bahn seit Jahren geplant ist. Bahn und Land wollen den stufen- und barrierefreien Ausbau der Bahnhöfe mit einem 584-Millionen-Programm nun noch mal beschleunigen.

Im Jahr 2025 soll in Hochheim mit dem Bau der Aufzüge begonnen werden - so ist, nach vielen Verzögerungen, im Moment der Planungsstand. Ruttau würde sich freuen, aber nach all seinen Erfahrungen sagt er: "Ich traue den Ansagen nicht mehr". Er glaube es erst, wenn ihm wirklich keine Treppe mehr den Weg zum Bahnsteig versperre.

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Ihre Kommentare Welche Bahnhöfe in Hessen sind Ihnen aufgefallen? Wo klappt Barrierefreiheit, wo nicht?

79 Kommentare

  • Bahnhof Obertshausen!! Es gibt zwar eine Rampe, aber die ist Sooo lang, dass ich nach einer Knieoperation kräftemäßig nicht in der Lage war, in absehbarer Zeit oder überhaupt zum Gleis zu gelangen. Ich mußte aber zum Arzt nach Frankfurt. Taxigebühr ca. 50 . Sonst gibt es nur eine Treppe hinab und dann wieder hinauf.

  • Bahnhof bad soden-salmünster gleis 2 ist für rollstuhlfahrer nicht erreichbar

  • Bahnhof Offenbach - lost place ohne Charme. Nur Treppen, keine Chance für Menschen mit Kinderwagen oder im Rollstuhl ohne Hilfe zu den Gleisen zu kommen. Dazu total runtergekommen und stinkt nach Urin. Eine Schande.

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