Ein bewaffneter Mann steht auf einer Straße, im Hintergrund fährt ein Junge Fahrrad.

Ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan fürchten viele Menschen um ihr Leben oder das ihrer Angehörigen. Wir sprechen mit Betroffenen.

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Vor einem Jahr – Flucht aus Afghanistan nach Kassel

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Seit einem Jahr kenne er keine guten Gefühle mehr, sagt Habo. Nachts sitze er oft am Fenster seiner Frankfurter Wohnung und denke an seine Familie in Afghanistan. "Ich sitze da und denke, denke, denke und manchmal weine ich einfach nur."

Habo hat acht Jahre lang in Kundus im Norden Afghanistans als Übersetzer für die Bundeswehr gearbeitet und wird in diesem Text zum Schutz seiner Familie nicht mit echtem Namen genannt. Schon 2014 sei es für ihn gefährlich geworden, sagt er. Daher bekam Habo schon damals Asyl in Deutschland. Hier wohnt er nun mit seiner Frau und seinen Kindern. Wie er erzählt, leben sechs seiner Geschwister und seine Mutter derzeit noch in Afghanistan. "Was passiert dort mit ihnen – wegen mir?" Diese Frage stelle er sich seit nunmehr zwölf Monaten jeden Tag.

Rückblick: Afghanistan, August 2021

Am 15. August 2021, nach dem Rückzug der NATO-Streitkräfte, hatten die radikal-islamistischen Taliban die afghanische Hauptstadt Kabul und damit ganz Afghanistan eingenommen. In den folgenden Tagen herrschte Chaos: Tausende Menschen versuchten das Land zu verlassen, es spielten sich dramatische Szenen am Kabuler Flughafen ab.

Eine dieser Szenen hat Asib Malekzada aus Kassel schon in zahlreichen Fernsehinterviews erzählt. Anfang August 2021, wenige Tage vor der Machtübernahme, reiste er nach Kabul, um seine damalige Verlobte und heutige Ehefrau zu sich zu holen. "Ich sagte mir, ich muss jetzt alles Mögliche unternehmen, damit ich mit meiner Frau wieder zurückkomme."

Ausreise dank Parteibuch

Die beiden schafften es im Chaos durch die Taliban-Checkpoints tatsächlich bis zu einem Rettungsflieger der Bundeswehr. Malekzada habe sich als deutscher Diplomat ausgegeben und sein SPD-Parteibuch vorgezeigt. "Anscheinend haben sie das Buch für etwas Offizielles gehalten und gesagt: 'Weiterfahren.'" Es sei eigentlich viel wahrscheinlicher gewesen, in diesem Moment erschossen zu werden, sagte Malekzada damals nach seiner Rückkehr.

Etwa zeitgleich in Deutschland initiierte die gebürtige Wiesbadenerin Theresa Breuer die "Kabul Luftbrücke". Die Hilfsorganisation versuchte im August 2021 zunächst mit selbst gecharterten Flugzeugen, gefährdete Menschen aus dem Land zu bringen. Wenig später begann sie, Menschen mit Aufnahmezusage der Bundesregierung über den Landweg in Nachbarstaaten und von dort aus nach Deutschland zu helfen.

... und ein Jahr später?

Nach Angaben der Vereinten Nationen sind aktuell 2,3 Millionen Menschen aus Afghanistan in Nachbarstaaten geflüchtet. Noch mehr Afghaninnen und Afghanen sind im eigenen Land auf der Flucht: 3,5 Millionen, darunter sind 800.000 neue Binnenvertriebene im vergangenen Jahr dazugekommen.

"Wir bringen immer noch jede Woche Menschen aus dem Land", sagt Theresa Breuer im August 2022. Inzwischen seien es 2.500 Menschen, die die Kabul Luftbrücke nach Deutschland gebracht habe. Aktuell sehe es so aus, als würde es den Einsatz der Hilfsinitiative noch eine ganze Weile brauchen – "leider", sagt Breuer.

Die Hilfsorganisation wolle weitermachen, solange es nötig sei. Inzwischen beliefen sich die monatlich anfallenden Kosten aber auf über 100.000 Euro, während die Spenden zuletzt auf 18.000 Euro im Monat gesunken seien. "Afghanistan wird einfach vergessen", sagt Breuer.

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1.904 Ortskräfte in Hessen

Nach Angaben des Hessischen Sozialministeriums wurden von Mai 2021 bis zum 9. August 2022 insgesamt 1.904 afghanische Ortskräfte und Familienangehörige nach Hessen verteilt und zugewiesen.
Rund 23.600 afghanische Ortskräfte und Familienangehörige haben laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) eine Aufnahmezusage. Davon sind rund 17.500 bisher nach Deutschland eingereist. Mehr dazu bei tagesschau.de.

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Keine Bomben, aber Hunger und Verzweiflung

Vergessen ist für Menschen wie Flüchtlingshelferin Theresa Breuer, Asib Malekzada und seine Ehefrau in Kassel oder Habo und seine Familie in Frankfurt keine Option. Täglich stehen sie im Kontakt mit ihren Angehörigen und Freunden, die noch in Afghanistan leben – unter ständiger Angst, teilweise versteckt und mit Schwierigkeiten, an Geld und Lebensmittel zu kommen.

Theresa Breuer sagt: "Ausnahmsweise gehen in Afghanistan nicht mehr ständig Bomben hoch, aber die Lage ist dennoch katastrophal." Malekzada spricht von einer "dramatisch veränderten" Situation bei Verwandten in Kabul. Die Pandemie und Dürren hätten den wirtschaftlichen Kollaps des Landes verstärkt.

Theresa Breuer in den Bergen mit einer Kamera in der Hand.

Für Habo mache sich die Verzweiflung der Menschen besonders dadurch bemerkbar, dass sein Handy nicht mehr stillstehe. "Alle möglichen Bekannten kontaktieren mich ständig: 'Helft uns, wir haben kein Essen, wir sterben hier'." Er habe mittlerweile seine Messenger-Apps gelöscht, weil die Nachrichten ihm zu viel geworden seien. Aber er wisse auch: "Viele Leute essen jetzt nur noch einmal am Tag, meist nicht mehr als Brot."

Unterdrückung der Frauen

Besonders prekär sei die Lage für Familien, in denen die Frauen zuvor Jobs hatten, die sie unter der Taliban-Herrschaft nicht mehr ausüben dürfen. "Meine Schwiegermutter und meine Schwägerin haben beide als Lehrerinnen gearbeitet", sagt Habo. Jetzt verdienen sie kaum noch Geld. "Wie soll eine zehnköpfige Familie mit umgerechnet 70 Euro im Monat überleben?"

Mädchen ab der siebten Klasse dürfen in Afghanistan nicht mehr zur Schule gehen. Asib Malekzada und seine Frau berichten, dass sie einigen Mädchen Geld für Prepaid-Karten schicken, damit diese am digitalen Unterricht teilnehmen können, den Malekzadas Frau jetzt von Kassel aus anbiete. Sie ist keine Lehrerin, hatte aber studiert und in Afghanistan als Richterin gearbeitet.

Diese Form der Hilfe sei eine Art, sich nicht ganz so machtlos zu fühlen, sagt Malekzada. "Für meine Frau und mich ist klar, dass wir eines Tages zurückkehren werden, um dort Entwicklungsarbeit zu leisten."

Mangelware Reisepässe

Die Lebensbedingungen von Frauen und Mädchen unter den Taliban sind es auch, die der Luftbrücke-Initiatorin Theresa Breuer große Sorge bereiten. Anfang Juni sei sie zuletzt in Kabul gewesen. "Viele junge Frauen sitzen nur zuhause und fangen an durchzudrehen, weil sie nicht wissen, wie es weitergehen soll." Mit jedem Tag, der vergehe, werde es unwahrscheinlicher, einen Reisepass und ein Visum zu bekommen.

Mittlerweile seien die Menschen, deren Fälle vergleichsweise einfach waren, aus dem Land gebracht worden. Nun kämen die schwierigeren Fälle. "So Sachen wie: Da ist eine Zusage, aber in den letzten Monaten ist ein neues Baby dazu gekommen", sagt Breuer, "und für dieses Baby gibt es dann erstmal keine Zusage, es braucht einen neuen Antrag."

Pässe, Visa und Aufnahmezusagen organisieren - darin liege oft die viel größere Schwierigkeit als im eigentlichen Transport über die Grenze. Grundsätzlich sei es unter den Taliban erlaubt, mit einem Reisepass das Land zu verlassen. Aus den Nachbarstaaten könne dann bei einer deutschen Botschaft ein Visum beantragt werden. "Wegen der Lieferprobleme werden die Reisepässe aber inzwischen knapp und wahnsinnig teuer." Kaum jemand könne sich noch einen Pass leisten.

Taliban suchen nach Angehörigen

Für Habos Familienangehörige in Afghanistan scheitert die Ausreise aber noch an einer anderen Hürde: der fehlenden Aufnahmezusage der Bundesregierung. Der Familiennachzug im deutschen Gesetz umfasst nur den engsten Kreis, beispielsweise erwachsene Geschwister sind in der Regel nicht eingeschlossen.

Dabei seien seine Brüder wegen ihm in Lebensgefahr, sagt Habo. "Die Taliban denken, sie sind Spione, weil ich für die Deutschen gearbeitet habe." Aus Angst habe sein Schwiegervater das Haus seit einem Jahr fast gar nicht mehr verlassen, berichtet er.

Auch die Familie von Asib Malekzadas Frau müsse sich mittlerweile verstecken, berichtet der Mann aus Kassel. Als Richterin habe sie noch im Herbst 2020 einen hochrangigen Taliban-Offizier zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Für die Taliban offenbar ein Grund, sie ganz oben auf ihre Feindesliste zu setzen. "Wir haben im Fernsehen mitbekommen, dass nach ihr gefahndet wird", sagt Malekzada.

Ein Mann mit Rucksack steht an einer Straße, im Hintergrund ein Flughafengebäude und Soldaten in Tarnkleidung.

Aussicht auf neue Aufnahmeprogramme?

Für Menschen in ähnlichen Bedrohungslagen, die zwar keine ehemalige Ortskraft sind, aber aus anderen Gründen als besonders gefährdet gelten, hatte die Bundesregierung eigentlich ein zusätzliches, humanitäres Aufnahmeprogramm versprochen. Aber selbst das erste Programm für die Aufnahme der Ortskräfte ist noch nicht abgeschlossen.

Auch der hessische Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) hatte im Juni angekündigt, dass er noch in diesem Jahr ein eigenes Landesaufnahmeprogramm aufsetzen wolle. Die Landesregierung prüfe derzeit noch die Rahmenbedingungen, heißt es dazu Mitte August vom Innenministerium auf hr-Anfrage. Das Programm werde sich an gefährdete Familienangehörige afghanischer Geflüchteter in Hessen richten.

Ob dann auch für Habos Angehörige eine neue Chance bestünde, nach Deutschland zu kommen? Habo hofft darauf, aber noch größer ist sein Wunsch, dass die Taliban aus Afghanistan doch eines Tages wieder verschwinden. "Ich will einfach nur, dass mein Land frei ist", sagt er.

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