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Tausende Ungeimpfte im Gesundheitswesen

Pflegerin schiebt Heimbewohner im Rollstuhl

Am 15. März trat die Impfpflicht für Beschäftigte im Gesundheitswesen in Kraft. Seitdem haben die Einrichtungen tausende ungeimpfte Mitarbeiter gemeldet – doch passiert ist wenig, wie eine hr-Recherche zeigt.

Als die Corona-Impfpflicht kam, hatte Georg Riester Sorge vor Engpässen in manchen seiner Teams. 53 seiner knapp 600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter musste er im März melden, weil sie weder geimpft noch genesen waren, wie der Assistenzdienst-Leiter sagt.

Die Teams des Vereins zur Förderung der Autonomie Behinderter in Kassel begleiten Menschen mit Behinderungen bei täglichen Dingen wie dem Einkaufen, in die Schule oder sie machen Hausbesuche.

Drohende Strafen ändern kaum etwas

Bis Mitte März mussten sie sich impfen lassen. Andernfalls drohten ihnen Bußgelder von 200 Euro und im zweiten Schritt Beschäftigungsverbote - ebenso wie den nach Schätzung des hessischen Sozialministeriums rund 22.000 anderen ungeimpften Beschäftigten in Heimen, Krankenhäusern, der Behindertenhilfe oder bei ambulanten Pflegediensten in Hessen.

Doch seit der Meldung an das Kasseler Gesundheitsamt sei nicht viel passiert, sagt Riester heute, fast sechs Monate später. Ein oder zwei seiner Mitarbeiter hätten sich umstimmen lassen, ein paar andere seien inzwischen genesen. Der Rest arbeite ohne den geforderten Immunitätsnachweis weiter - mit zusätzlichen Schutzmaßnahmen wie täglichen Corona-Tests und FFP2-Masken.

Konsequenzen in weniger als einem Prozent der Fälle

Eine hr-Umfrage unter den Gesundheitsämtern vom 8. September zeigt: Das ist bisher die Regel. Die Impfpflicht gilt in Hessen für rund 250.000 Menschen im Gesundheitsbereich. Mehr als 18.000 Beschäftigte wurden den hessischen Gesundheitsämtern von den Einrichtungen gemeldet. Mindestens 7.500 von ihnen legten nach einmaliger oder mehrfacher Aufforderung doch noch einen Impfausweis, Genesenennachweis oder ein ärztliches Attest vor, das ihnen medizinische Gründe gegen die Impfung bescheinigt. Etwa vier Prozent der Menschen in der Pflegebranche sind also weiterhin ungeimpft.

Die Angabe ist ungenau, weil nicht alle Gesundheitsämter eine Zahl zu den nachgereichten Unterlagen genannt haben. Geantwortet haben zudem nur 18 von 24 Ämtern.

Doch die Tendenz ist deutlich: Konsequenzen hatte die Impfpflicht bisher kaum. Bis Anfang September verhängten die 18 befragten Gesundheitsämter zusammen 31 Bußgelder und 12 Tätigkeitsverbote. Sanktionen gab es bisher also in weniger als einem Prozent der gemeldeten Fälle.

Schlupfloch Fachkräftemangel

Verpflichtet sind die Gesundheitsämter zu Sanktionen nicht, doch sie müssen jeden Einzelfall genau prüfen. Im entsprechenden Erlass des hessischen Sozialministeriums heißt es, wegen des Fachkräftemangels im Gesundheitswesen sei die Versorgungssicherheit mindestens genauso wichtig wie der Infektionsschutz.

Werden die Lücken im Dienstplan so groß, dass Patientinnen und Patienten nicht mehr versorgt werden können, dürfen die ungeimpften Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Sicht der Behörden also bleiben.

Bis diese Entscheidung fallen kann, müssen die Betroffenen allerdings mehrfach angeschrieben, zur Impfung beraten und auch ihre Arbeitgeber angehört werden - jeweils mit Rückmeldefristen von mehreren Wochen. Hinzu kommen mögliche Widersprüche und Widerspruchsfristen, was erklärt, weshalb aktuell noch so viele Fälle bei den Gesundheitsämtern in Bearbeitung sind.

Bußgelder abgewendet

Auch Assistenzdienst-Leiter Riester erhielt 13 Schreiben vom Kasseler Gesundheitsamt: Welche Schutzmaßnahmen die Ungeimpften einhalten würden, ob sie überhaupt noch bei ihm arbeiteten?

In allen 13 Fällen habe er sich für seine Mitarbeiter stark gemacht, sagt Riester. Denn jedes einzelne Beschäftigungsverbot würde seine Personalnot verschärfen. Er könne das statistisch nicht belegen, aber er habe schon den Eindruck, dass die Zahl der Bewerbungen seit der Impfpflicht zurückgegangen sei. Ungeimpftes Personal darf er nicht mehr einstellen.

In manchen Kreisen wurden nach dem Austausch mit den Arbeitgebern Bußgelder fallen gelassen. So entschied man sich im Kreis Limburg-Weilburg stattdessen zwölfmal für Auflagen wie Tests und Maskenpflicht. Auch im Vogelsbergkreis wurden 35 Bußgelder von den Betroffenen abgewendet, während der Kreis Marburg-Biedenkopf 12 verhängte. In der Stadt Wiesbaden wurde zudem in einer "einstelligen Zahl" an Fällen über ein Betretungsverbot entschieden. Im Rheingau-Taunus-Kreis sollen in Kürze drei solcher Bescheide verschickt werden.

"Kein erhöhtes Risiko durch Ungeimpfte - dank Maske"

Seinen Mitarbeitern Tätigkeitsverbote auszusprechen, fände er nicht gerechtfertigt, sagt Georg Riester vom Verein zur Förderung der Autonomie Behinderter. Schließlich könnten auch die geimpften Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ansteckend sein. Als im Juni und Juli wieder viele Veranstaltungen stattfanden, hätten sich unter seinen Beschäftigten auch viele Geimpfte infiziert. "Da die Ungeimpften die Masken- und Testpflicht konsequent einhalten, geht von denen kein erhöhtes Risiko aus."

Hätte sich jemand geweigert, sich an die strengeren Hygienevorschriften zu halten, hätte er das dem Gesundheitsamt mitgeteilt, betont Riester - und wahrscheinlich selbst ein Betretungsverbot verhängt. "Aber solche Fälle haben wir zum Glück nicht." Daher würde er es unterstützen, wenn die Impfpflicht wieder aufgehoben würde. Die FFP2-Maske biete bei der körpernahen Arbeit ohnehin den besten Schutz.

270 Einrichtungen, 0 Beschäftigungsverbote

Auch Sonja Driebold hält die Maskenpflicht für wirksamer als die Impfpflicht. Nach dem Scheitern der allgemeinen Impfpflicht sei die Impfpflicht nur für einen Teil der Bevölkerung eigentlich nicht mehr zu halten, sagt die Leiterin der Abteilung Gesundheit, Alter und Pflege bei der Diakonie Hessen. Aus den zugehörigen 140 stationären Einrichtungen und 130 ambulanten Pflegediensten ist ihr kein einziges Betretungsverbot bekannt. Zu einem signifikanten Anstieg an Geimpften habe die Impfpflicht ihres Wissens ebenfalls nicht geführt.

Sie sei für die Impfung, und auch für eine allgemeine Impfpflicht, doch die Pflegebranche dürfe für den Impfstatus der Bevölkerung nicht allein verantwortlich gemacht werden, meint Driebold. Der Anteil der Geimpften sei unter den medizinischen Beschäftigten ohnehin besonders hoch. Mit rund 91 Prozent liegt er nach Angaben des Sozialministeriums deutlich über der Impfquote der Gesamtbevölkerung (78 Prozent).

Seit anderthalb Jahren keine Todesfälle mehr

Im Altenzentrum Eben-Ezer in Gudensberg (Schwalm-Eder) sind sogar 95 Prozent der Angestellten geimpft. Trotzdem sagt Leiter Walter Berle, er habe seine Meinung zur Impfpflicht seit März komplett geändert. Denn inzwischen sei klar, dass er auch "sehr gute" Mitarbeiter in verantwortungsvollen Positionen verlieren könnte. Zudem habe es in seinem Heim seit Anfang 2021 keine Corona-Todesfälle mehr gegeben.

Da ab dem 1. Oktober nur noch Geboosterte (oder zusätzlich Genesene) als vollständig geimpft gelten, müsse die Impfpflicht zu diesem Zeitpunkt wegfallen, sagt Berle, der neben seinem eigenen Heim auch für 300 bis 400 weitere stationäre und ambulante Einrichtungen in Hessen spricht. Berle ist stellvertretender Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Hessen. Dort sei man geschlossen der Meinung, dass die Auswirkungen sonst verheerend wären.

Impfpflicht auf dem Prüfstand

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft hatte sich bereits im Juli für ein Ende der einrichtungsbezogenen Impfpflicht ausgesprochen. Denn seit der Omikron-Variante diene die Impfung nur noch dem Selbstschutz, verhindere aber nicht mehr die Übertragung des Virus wie zuvor bei der Delta-Variante.

Der Frankfurter Virologe Martin Stürmer bestätigt das: "Die alten Antikörper haben gegenüber Omikron so gut wie keinen Fremdschutz mehr erzielen können." Er hoffe, dass sich das mit den neuen, an Omikron angepassten Impfstoffen jetzt wieder ändert.

Die Bundesregierung wird sich jedenfalls bald wieder mit der Impfpflicht befassen müssen. Laut Infektionsschutzgesetz ist sie bis zum 31. Dezember befristet. Wird sie nicht verlängert, könnten Ungeimpfte also ab Januar sowieso wieder in der Pflege arbeiten dürfen.

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