Erste Anlaufstelle in Hessen Uniklinik Marburg hilft Patienten mit Long Covid-Symptomen nach Corona-Impfung
Audio
PostVac-Ambulanz in Marburg

Es gibt Menschen, die nach einer Corona-Impfung an Long Covid-Symptomen leiden. Ein Team der Uniklinik Marburg versucht, ihnen zu helfen - und zugleich den Ursachen auf die Spur zu kommen.
Menschen, die unter Long Covid leiden und solche, bei denen eine Corona-Impfung schwere Nebenwirkungen auslöst, teilen oft dieselben Beschwerden: Müdigkeit, Schwäche, Nervenschmerzen, teils neurologische Ausfälle, Schwindelgefühle, Lähmungen oder Herzkreislauf-Probleme. Das fiel Ärzten am Universitätsklinikum Marburg vor einem guten Dreivierteljahr auf.
Damals stellten sich in der Long Covid-Sprechstunde immer mehr Patienten vor, die nach einer Corona-Impfung ähnliche Symptome entwickelten wie Long Covid-Patienten. Im Januar diesen Jahres richtete das Team der Kardiologie deswegen eine eigene Sprechstunde für diese Patienten ein - es sei die erste ihrer Art in Hessen, sagt Klinikdirektor Professor Bernhard Schieffer.
Warteliste mit 800 Patientinnen und Patienten
Inzwischen erreichten die Spezialambulanz für Patienten mit Nebenwirkungen nach der Corona-Impfung zwischen 200 und 400 Mails am Tag, sagt Schieffer. Die Warteliste sei auf rund 800 Patientinnen und Patienten angewachsen.
Die Spezialambulanz
Das Universitätsklinikum Gießen und Marburg bietet am Standort Marburg eine Spezialambulanz für Patienten mit Nebenwirkungen nach der Corona-Impfung und für Patienten mit Long Covid an. Wer sich an die Sprechstunde der Marburger Spezialambulanz wenden möchte, kann dies per Mail unter post-covid-impfung.mr@uk-gm.de tun.
Betroffene haben unter nebenwirkungen-covid-impfung.org ein Forum eingerichtet, um sich auszutauschen.
Vier bis sechs Patienten pro Tag kann sich das Team der Ambulanz anschauen. Zuvor muss ein 20-seitiger Fragebogen ausgefüllt werden. Es folgt ein etwa einstündiges Gespräch, eine umfassende Laboruntersuchung, ein Ultraschall und ein Belastungstest auf dem Fahrrad. Zur Behandlung überweist das Team die Patienten an weitere Fachärzte wie Neurologen oder Lungenfachärzte - je nachdem, wo der Schwerpunkt der Beschwerden liegt.
Studienprogramm in Planung
Da die Nachfrage - auch mangels vergleichbarer Angebote - derart hoch und die Wartezeit lang ist, versucht das Team, ein Netzwerk aufzubauen, um den Patienten über niedergelassene Ärzte eine erste Hilfe zukommen zu lassen. Das Universitätsklinikum Marburg arbeitet zudem daran, ein Studienprogramm für diese so genannten PostVac-Patienten aufzubauen, dafür sei aber noch Vorarbeit nötig, sagt Schieffer.
Die Forschung stehe bei dem Thema noch ganz am Anfang: "Es ist noch nicht einmal klar, wie viele dieser PostVac-Patienten es überhaupt gibt", so Schieffer. Klar sei auch nicht, inwiefern die Beschwerden überhaupt ausschließlich von der Impfung ausgelöst würden.
Vorerkrankungen können "aufgedeckt" werden
Es gebe aber erste Anhaltspunkte: "Meistens tragen diese Patienten ein bis dahin nicht bekanntes immunologisches Defizit in sich - sei es eine unerkannte Infektion, sei es ein genetischer Defekt im Sinne einer Autoimmunerkrankung." Diese "Defizite", zu denen auch eine bis dato unerkannte Corona-Infektion selbst zählen kann, würden dann von der "Impfung aufgedeckt". Dazu gehörten zum Beispiel Rheumaerkrankungen, Schuppenflechte oder Zöliakie (Glutenunverträglichkeit). Es seien "hochkomplexe Erkrankungsbilder", sagt Schieffer.
Zudem könnten im Körper "schlummernde" Viren - durch die Impfung, aber auch durch eine Corona-Infektion - "reaktiviert" werden. Hierunter zählten etwa das Epstein-Barr-Virus oder Hepatitis E. Ein kausaler Zusammenhang sei bislang aber nicht nachweisbar.
Frage: Warum überreagiert das Immunsystem?
Viele Patientinnen und Patienten haben indes nicht nur das Problem, dass sie unter anhaltenden Beschwerden leiden. Sie werden nicht ernst genommen und haben Ärzteodysseen hinter sich, bei denen doch nichts gefunden wurde. Einige werden zum Psychologen geschickt - die Beschwerden seien psychosomatisch.
Dass die Patienten von Arzt zu Arzt weitergereicht werden, liege wahrscheinlich daran, dass das Beschwerdebild relativ neu ist", sagt Klinikdirektor Schieffer. Und es sei nicht hinreichend bekannt, dass die Impfung die Probleme auslösen könne, sagt Schieffer. Nun gelte es herauszufinden, warum das Immunsystem bei einigen Menschen so überreagiert.
Was ist Long Covid?
Long Covid hat erst seit kurzem einen ICD-Code, gilt also als international anerkannte Erkrankung. Die Diagnose ist bislang aber schwierig, da es kein einheitliches Krankheitsbild gibt. Experten haben inzwischen rund 300 verschiedene Long-Covid-Symptome gezählt.
Ende der weiteren Informationen"Es ist wichtig, sich impfen zu lassen"
Schieffer betont dabei, dass er ausdrücklicher Impfbefürworter sei. "Ich möchte auf keinen Fall, dass wir, die wir uns wissenschaftlich mit diesem komplexen Thema beschäftigen, in die Ecke von Impfgegnern geschoben werden", sagt er. "Jeder, der einmal einen coronakranken Patienten auf einer Intensivstation gesehen hat, weiß, wie wichtig es ist, dass man sich impfen lässt."
Wer weiß, dass er an einer Autoimmunkrankheit leidet, dem rät Schieffer, sich vor der Impfung mit einem Arzt zu besprechen - in diesem Fall gebe es zum Beispiel die Möglichkeit, die Immunantwort mittels Cortison zu "modulieren", also eine Überreaktion zu verhindern.
Wie oft treten Impfkomplikationen auf?
- Das für die Sicherheit von Impfstoffen zuständige Paul-Ehrlich-Institut (PEI) erfasst Verdachtsfälle von Nebenwirkungen und Impfkomplikationen. Der jüngste Sicherheitsbericht stammt vom 7. Februar 2022 und bezieht sich auf fast 150 Millionen Impfungen, die bundesweit bis Ende Dezember 2021 verabreicht wurden. Gemeldet wurden bis dahin 1,6 Verdachtsfälle pro 1.000 Dosen aller Hersteller - das entspricht 0,16 Prozent. Bei den schwerwiegenden Reaktionen liegt die Melderate bei 0,2 Verdachtsfällen pro 1.000 Impfdosen - 0,02 Prozent. Als "schwerwiegend" definiert das Arzneimittelgesetz Nebenwirkungen, die tödlich oder lebensbedrohend sind, eine stationäre Behandlung erfordern oder zu bleibenden Schäden führen.
- Generell verweist das PEI darauf, "dass unerwünschte Reaktionen im zeitlichen, nicht aber unbedingt im ursächlichen Zusammenhang mit einer Impfung gemeldet werden". Ob eine Reaktion tatsächlich eine Folge der Impfung ist, könnten nur Studien beweisen. "Nach derzeitigem Kenntnisstand sind schwerwiegende Nebenwirkungen sehr selten und ändern nicht das positive Nutzen-Risiko-Verhältnis der Impfstoffe", betont der Sicherheitsbericht.