Mann beim Corona-Test

Die Sieben-Tage-Inzidenz ist der entscheidende Maßstab für die Anti-Corona-Maßnahmen. Doch die Zahlen, an denen Land und Bund sich orientieren, weichen in einigen Städten und Kreisen drastisch von der Wirklichkeit ab.

Die Sieben-Tage-Inzidenz, die Anzahl der Neuinfektionen je 100.000 Einwohner, ist zur wichtigsten Zahl in dieser Pandemie geworden. Festgelegt haben sie die Ministerpräsidenten und die Bundeskanzlerin. Anhand der Inzidenz bestimmen die Politiker, welche Anti-Corona-Schritte sie wo einleiten, ob es zum Beispiel eine Ausgangssperre gibt.

Doch ausgerechnet bei dieser zentralen Zahl sind die Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI), der Bundesbehörde zum Infektionsschutz, und der mit der Weitergabe der hessischen Zahlen betrauten Landesbehörde oft nicht korrekt und aktuell. Politiker orientieren sich bei ihren Beschlüssen daher an Inzidenzwerten, die nicht selten zu niedrig sind.

Welche Landkreise in Hessen sind besonders betroffen?

Für die kreisfreie Stadt Wiesbaden beispielweise meldete das RKI im November und Anfang Dezember durchgehend viel zu niedrige Werte. Die tatsächliche Inzidenz war in dieser Zeit um durchschnittlich 20 Prozent höher als die vom RKI gemeldete. Wurde ein Wert von 150 angegeben, lag dieser tatsächlich bei 180. Die größte Abweichung gab es Mitte November. Die Inzidenz des RKI betrug da nur die Hälfte des tatsächlichen Wertes.

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Große Unterschiede bei den Inzidenzen gibt es auch im Lahn-Dill-Kreis. In den vergangenen zwei Monaten wichen die tatsächlichen Zahlen von denen des RKI stark ab. Mitte Oktober war der Unterschied besonders beträchtlich: Fast 60 Prozent lag die vom RKI gemeldete Inzidenz daneben. Das hat sich im Dezember verbessert. Aber auch zuletzt war die Zahl um 10 bis 25 Prozent zu niedrig.

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Ähnliche Probleme gibt es beim Kreis Bergstraße. Hier betrug die Abweichung teilweise mehr als 40 Prozent. So kam es beispielsweise vor, dass das RKI einen Wert unter 50 meldete, während die Inzidenz in Wirklichkeit über 75 lag.

In ganz Hessen vergeht keine Woche, in der das RKI nicht für mindestens eine kreisfreie Stadt oder einen Kreis Zahlen veröffentlicht, die um mindestens 15 Prozent von der Realität abweichen.

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Welche Probleme gibt es mit den Zahlen des RKI?

Das hat viel mit dem Ablauf zu tun. Bis die Corona-Meldungen beim Robert-Koch-Institut eintreffen, müssen sie einen langen Weg zurücklegen. Vom Labor gehen die Meldungen zunächst an das zuständige Gesundheitsamt. Häufig geschieht dies per Fax, E-Mail oder telefonisch.

Das Gesundheitsamt wiederum gibt die Meldungen in ein System (SurvNet) ein und an das Hessische Landesprüfungs- und Untersuchungsamt im Gesundheitswesen (HLPUG) weiter. Die Landesbehörde prüft die Meldungen und übermittelt sie an das RKI. Oft dauert es einen Tag, bis die Corona-Meldungen der Bundesbehörde vorliegen - in einigen Fällen aber auch länger.

Der Weg einer Corona-Meldung bis zum RKI

Das führt dazu, dass die Fälle, die erst einen Tag oder später beim RKI eintreffen, aus der Inzidenz rausfallen. Ein Beispiel: An einem Tag werden in Wiesbaden 100 Menschen positiv auf das Coronavirus getestet. Das Gesundheitsamt vermag aber nur 60 dieser Fälle noch am selben Tag ins System einzutragen und weiterzuleiten. Die 60 Meldungen gehen dann in die Inzidenz des RKI mit ein. Die anderen 40 Meldungen fallen aus der Berechnung raus. Die Inzidenz des RKI ist also um 40 Prozent zu niedrig.

"Durch den Übermittlungsverzug kann es zu einer Unterschätzung der Sieben-Tage-Inzidenz kommen, insbesondere bei dynamischen Entwicklungen", teilt das RKI mit. Sobald die verzögerten Meldungen ankämen, gingen diese jedoch nachträglich in die Berechnungen ein.

Die Inzidenz wird also nachträglich nach oben korrigiert und stimmt dann irgendwann. Das Problem ist nur, dass sich im Nachhinein kaum jemand diese Korrektur anschaut.

Welche Zahlen gibt es zusätzlich?

Viele Gesundheitsämter veröffentlichen selbst ebenfalls jeden Tag Infektionszahlen. Diese sind oft aktueller als die RKI-Angaben.

Das hessische Sozialministerium teilt auch jeden Tag Zahlen zu Coronafällen und Todesfällen im Zusammenhang mit Covid-19 mit - allerdings nicht morgens wie das RKI, sondern nachmittags. Die Ministeriumszahlen kommen direkt von der Landesbehörde, dem HLPUG. Auch sie sind oft nicht aktuell, weil die Verzögerung in den Meldungen nicht zwischen HLPUG und RKI passiert, sondern vorher: auf dem Weg vom Labor zum Gesundheitsamt und zur Landesbehörde.

Wo entstehen die Verzögerungen?

Die Gründe für die Verzögerungen sind oft auf die Gesundheitsämter zurückzuführen. Dort arbeitet man seit Monaten am Limit. "Durch die hohe Anzahl von Infektionsfällen ist die Eingabe der Daten nicht immer an dem Wochentag möglich, an dem die Meldung auftritt", räumt das Sozialministerium auf Anfrage des hr ein. Wenn dann noch Mitarbeiter aus Krankheitsgründen ausfallen, bleibt die Arbeit liegen.

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Das Ministerium nennt auch "Netzwerkprobleme oder Probleme mit der Software" als Gründe dafür, dass Fälle auf dem Meldeweg stecken bleiben.

Ebenfalls eine Rolle spiele der Arbeitsablauf in den Ämtern. Mitarbeiter hätten häufig erst damit zu tun, Kontaktpersonen von Infizierten nachzuverfolgen und Quarantänen zu verhängen. "Der Infektionsschutz steht immer an erster Stelle", schreibt das Sozialministerium. Die Weitergabe der Meldungen erfolge danach.

Welche Probleme zieht das nach sich?

Viele Bürger sind durch die unterschiedlichen Zahlen, die sie für ihre Stadt oder ihren Kreis lesen, verunsichert, wie nicht zuletzt hr-Redakteure jeden Tag in Mails und Kommentaren auf ihren Social-Media-Seiten lesen können. Die Gefahr besteht, dass Menschen den Angaben grundsätzlich zu misstrauen beginnen oder das Infektionsrisiko unterschätzen und ihr Verhalten nicht anpassen, wie es geboten wäre.

Deshalb bitte man die Bürger, mehr auf die Zahlen der Kreise selbst zu schauen und weniger auf die Zahlen des RKI, sagt Sebastian Wenzel, Pressereferent der Stadt Wiesbaden. Er sieht in den RKI-Zahlen "ein erhebliches Problem, da die Zahlen scheinbar besser werden, die Realität aber eine andere ist".

Das Problem ist nur: Einen deutschlandweiten Überblick bietet nur das RKI. Und viele Bürger orientieren sich an den Zahlen des Instituts.

Auf welche Zahlen schauen die Politiker?

Um Entscheidungen zum Infektionsschutz zu treffen, nutzen die Politiker die Inzidenzzahl. Allerdings aus unterschiedlichen Quellen. Auf Kreisebene sind die Werte wichtig, die der Kreis selbst veröffentlicht. "Unser Vorgehen und unsere Planung orientiert sich aktuell, da uns das Problem bekannt ist, an den eigenen Zahlen, nicht an denen es RKI", sagt etwa Wiesbadens Pressesprecher Wenzel. Seine Kollegin vom Kreis Bergstraße, Cornelia von Poser, übermittelt das gleiche: "Entscheidungsgrundlage für Maßnahmen des Landkreises sind unsere Zahlen sowie die tägliche Analyse der Situation vor Ort."

Anders sieht es auf Landesebene aus. Die schwarz-grüne Koalition in Wiesbaden entscheidet über Maßnahmen auf Grundlage der Zahlen der Landesbehörde, dem HLPUG.

Wie oben dargestellt, gleichen die Zahlen der Landesbehörde denen des RKI stark, da die Übermittlung hier schnell geht. Auch viele Werte, anhand derer die Landespolitik konkret Anti-Corona-Maßnahmen erlässt, sind also im Zweifel zu niedrig.

Was soll sich ändern?

Damit es künftig weniger Verzögerungen gibt, suchen die Gesundheitsämter Personal. "Insbesondere für die Kontaktpersonennachverfolgung, so dass andere Mitarbeiter für die Datenübermittlung freigestellt werden können", meldet das Sozialministerium.

Auch an den technischen Verbesserungen arbeite man. So soll das aktuelle System (SurvNet) durch das Deutsche Elektronische Melde- und Informationssystem für den Infektionsschutz (DEMIS) ersetzt werden. Von der stärkeren Digitalisierung der Gesundheitsämter erhoffe man sich schnellere Abläufe bei den Meldungen, so das Ministerium.

Sendung: hr-iNFO, 17.12.2020, 12.18 Uhr