Corona-Ausblick auf 2022 Virologe Stürmer: "Mit Omikron ist ein neuer Spieler auf dem Feld"

Die besonders ansteckende Omikron-Variante breitet sich auch zunehmend in Hessen aus. Virologe Martin Stürmer erklärt im Interview, weshalb er trotzdem optimistisch auf das neue Jahr blickt und weshalb eine erneute Booster-Impfung noch mit dem bisherigen Impfstoff sinnvoll sein könnte.
hessenschau.de: Herr Stürmer, vor genau einem Jahr führten wir mit Ihnen ein Interview zu diesen Themen: Zweite Corona-Welle, Ausgangssperren, die neue Mutante aus Großbritannien, der Impfstart in Deutschland. Wenn Sie zurückblicken: Wie sehen Sie die Lage heute im Vergleich zu damals?
Martin Stürmer: Es gibt einige Parallelen. Wir haben zum Beispiel die gleiche Diskussion über den Umgang mit Weihnachten und Neujahr, darüber, ob man Silvesterfeiern absagt und wie reduziert man Weihnachten gestaltet.
Aber wir sind auch seit über einem Jahr mit den Impfungen im Gange. Letztendlich haben wir es so geschafft, das Infektionsgeschehen in den Griff zu bekommen. Die Impfungen haben gut funktioniert - bis Omikron kam.
Was mich ein bisschen ärgert: Wir haben aus den Fehlern der Vergangenheit nicht gelernt. Die Politik ist zu locker mit den Varianten umgegangen und hat unterschätzt, wie schnell sie sich ausbreiten können. Das Ziel, vor die Wellen zu kommen, ist immer noch nicht umgesetzt.

hessenschau.de: Was hätten Sie sich als frühzeitige Maßnahmen gewünscht?
Stürmer: Wir hätten mehr Zeit gewinnen können, zum Beispiel mit früheren Booster-Impfungen schon bei viel niedrigeren Infektionszahlen agieren können. Durch die Flut an Lockerungen mit der Delta-Variante im Hintergrund hatten wir auch im Sommer ein nicht unerhebliches Infektionsgeschehen. Aber die Politik war zu euphorisch und hat die Warnungen der Wissenschaft ignoriert. Jetzt ist mit Omikron noch einmal ein neuer Spieler auf dem Feld.
hessenschau.de: Wie bewerten Sie Studien mit Daten aus Südafrika, wonach die deutlich ansteckendere Omikron-Mutante nur ein Viertel der Todesfälle im Vergleich zur Delta-Variante verursacht? Gibt das Anlass zur Hoffnung?
Stürmer: Wenn ich zwar weniger durch das Virus verursachte Krankenhausaufenthalte habe, aber das Vielfache an Infektionen, gleicht sich das möglicherweise auch wieder aus.
Ich scheue mich auch, die Daten aus Südafrika eins zu eins auf Deutschland übertragen zu wollen. Grundsätzlich hat Südafrika eine andere Altersstruktur mit wesentlich mehr jüngeren Menschen. Es gab dort auch deutlich mehr Infektionen mit der Beta-Variante.
hessenschau.de: Sehr ungünstig ist, dass die aktuellen Infektionszahlen wegen geringer Erfassung während der Feiertage weniger aussagekräftig sind. Gesundheitsminister Lauterbach schätzt, dass die Inzidenz zwei- bis dreifach höher ist als angegeben. Wie problematisch ist das?
Stürmer: Wenn es eine signifikante Unterschätzung ist, ist es deshalb problematisch, weil wir nicht bewerten können, ob die bisherigen Maßnahmen ausreichen, um Omikron eindämmen zu können. Das ist aber wichtig, um frühzeitig eingreifen zu können. Ich persönlich würde im Zweifel zu schärferen Maßnahmen schreiten. Aber juristisch und politisch ist das ohne entsprechende Zahlen schwierig.
hessenschau.de: Die Hoffnung, dass die Impfstoffe uns wesentlich länger vor Corona schützen, hat sich nicht bewahrheitet. Müssen wir uns darauf einstellen, dass wir mehrmals im Jahr geimpft werden müssen?
Stürmer: Ja, das ist schade, dass die Impfung nur so kurz hält. Und dass Omikron das Ganze noch schwieriger und unberechenbarer gemacht hat. Aber wir werden mit weiteren Modifikationen der Impfstoffe noch andere Abstände hinbekommen. Da ist noch Luft nach oben. Ich hoffe, dass es möglich sein wird, einen Impfstoff zu entwickeln, bei dem wir mit einer jährlichen Impfung geschützt sind.
hessenschau.de: Nun ist zunehmend von einer vierten Impfung die Rede. Wäre es nicht sinnvoll, mit dem erneuten Boostern zu warten, bis ein auf Omikron angepasster Impfstoff zur Verfügung steht?
Stürmer: Drei Monate nach dem Boostern fängt der Schutz der Impfung schon wieder an zu bröckeln. Wer erst jetzt gerade geboostert ist, kann noch auf einen neuen Impfstoff warten. Menschen, bei denen die dritte Impfung schon wieder einige Monate her ist, sollten nicht noch einmal drei Monate vergehen lassen und auf einen neuen Impfstoff warten. Es ist zwar ärgerlich und nervig, aber neben Kontaktreduktion ist Boostern das beste, das man jetzt machen kann.
hessenschau.de: Was glauben Sie, wo stehen wir nächstes Jahr um diese Zeit?
Stürmer: Ich bin Optimist. Ich gehe davon aus, dass wir im nächsten Jahr einen angepassten Impfstoff haben werden. Und dass wir einen Impfstoff auch mit Zulassung für die Unter-Fünfjährigen haben werden. Wir haben Medikamente, um die schweren Verläufe zu behandeln. Mit dieser Kombination aus flächendeckenden Impfungen und Medikamenten wird man wieder über eine Rückkehr zur Normalität reden können - und über ein Weihnachten und Silvester, das wir wieder so feiern können, wie wir es von früher kennen.
Wir dürfen aber nicht nur auf Deutschland und Europa schauen. Unser Ziel muss sein, die Infektionszahlen auf der ganzen Welt nach unten zu drücken. Die Impfung ist das wichtigste Mittel, um aus diesem Kreislauf herauszukommen.