zwei Mediziner neben einem Patienten auf einer Krankentrage in Bewegung

Hessische Kliniken behandeln deutlich weniger Kriegsopfer aus der Ukraine als erwartet. Liegt es am Bedarf, dem Bundeswehr-Transport oder doch den Krankenhaus-Kapazitäten? Ein Arzt aus Mittelhessen hat eine Vermutung.

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Weniger als erwartet: 14 ukrainische Kriegsverletzte in Hessen

Verletzte aus der Ukraine kommen an Flughafen in Köln an
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Georg Müller ist wütend. Auf den Krieg in der Ukraine und das sinnlose Blutvergießen. Aber auch auf eine Bürokratie und Politik, die aus seiner Sicht dazu beitragen, dass derzeit viele Schwerverletzte in der Ukraine unzureichend medizinisch versorgt werden – obwohl es besser ginge.

Der 71 Jahre alte Arzt aus Solms (Lahn-Dill) engagiert sich seit Jahrzehnten ehrenamtlich für medizinische Hilfe im Ausland, derzeit auch für Transporte von Materialien in die Ukraine. Im März erfuhr er vom Schicksal des 25 Jahre alten Denis.

"Warum ist das so schwer, ihn herzuholen?"

Wie Müller berichtet, ist der junge Soldat im ukrainischen Mariupol bei einer Explosion verletzt worden. Seine Kniescheibe sei komplett zerstört und habe entfernt werden müssen. Seitdem würden Ober- und Unterschenkel nur von einem äußerlichen Fixierungsgestell zusammengehalten. Nach einem beschwerlichen Transport einmal durchs ganze Land, befinde sich Denis inzwischen in einem Krankenhaus in Lwiw. Weil der junge Mann eine OP brauche, die vor Ort derzeit nicht möglich sei, habe Müller ihn zur Behandlung nach Deutschland holen wollen.

"Man müsste ihn nur die 80 Kilometer zur Grenze transportieren und wir könnten ihn dann mit einem Krankenfahrzeug dort übernehmen und für den Weitertransport zur Bundeswehr bringen", sagt er. Doch seit Monaten kämpft Müller dafür, dass das stattfindet - bisher vergebens. "Warum ist das so schwer, ihn herzuholen?", fragt er. "Es gibt doch genug Kapazitäten hier, um ihn zu behandeln."

Kliniken: Schon vor Wochen vorbereitet

Tatsächlich: Bereits kurz nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine hatten zahlreiche deutsche Krankenhäuser angekündigt: Man stelle sich darauf ein, schon bald Kriegsverletzte aus der Ukraine zu versorgen. Schienen, Blutkonserven, Implantate – was auch hessische Kliniken über Vorbereitungen berichteten, klang Anfang März so, als würde man in den Traumazentren mit zahlreichen Patienten mit Schuss- und Explosionsverletzungen rechnen, sobald humanitäre Korridore dafür frei seien.

Airbus A310 MedEvac (Archivbild) (picture alliance/dpa)

Inzwischen gibt es solche Korridore. Angekommen sind aber offenbar bisher trotzdem kaum Schwerstverletzte aus der Ukraine. Zuständig für ihren Transport von der polnischen Grenze ist das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK). Bisher hat das BBK 185 Kriegsverwundete nach Deutschland gebracht, die über ein sogenanntes "Kleeblatt-System" in Deutschland verteilt wurden. Das Sozialministerium in Wiesbaden teilt auf hr-Anfrage mit: Auf hessische Krankenhäuser wurden in den vergangenen drei Monaten 14 Verwundete verteilt.

Kliniken, Traumazentren und Bundeswehrkrankenhäuser betonen, dass Bereitschaft und Kapazitäten in ihren Häusern vorhanden seien. Das Uniklinikum Gießen etwa berichtet, man habe mehrfach Ankündigungen solcher Patienten bekommen, aber es sei bisher keiner gebracht worden. Warum, wisse man nicht. Der Tenor aller Einrichtungen: Man sei vorbereitet und warte die weitere Entwicklung ab.

Arzt: Soldaten werden nicht verlegt

Arzt Georg Müller versteht nicht, warum angesichts der grauenhaften Berichte aus der Ukraine nicht viel mehr Menschen hier behandelt werden. Ein Krankenhaus für die Operation von Denis zu finden, sei überhaupt kein Problem gewesen.

Vielmehr verweist Müller auf Probleme bei der Überführung, die bisher an der Bürokratie scheitere: Er sei zunächst von einer Bundesbehörde zur anderen geschickt worden. Das habe alles extrem viel Zeit gekostet. Dann sei ihm gesagt worden, dass die Kostenübernahme geklärt werden müsse. "Irgendwann hieß es: Ich müsste dafür einen Antrag bei der EU stellen." Wo, das habe ihm allerdings niemand sagen können.

Irgendwann sei zwar die Logistik geklärt gewesen, jedoch scheiterte es dann daran, dass der Patient von Seiten der ukrainischen Behörden nicht aus dem Land gebracht wurde. Warum, das wisse er nicht, sagt Müller. Er habe nur eine Vermutung: "Weil Denis Soldat ist." Und stellt die These auf: "Seit Februar werden aus der Ukraine nämlich gar keine Soldaten nach Deutschland verlegt."

Sind Soldaten hier? Behörden weichen aus

Stimmt das? Tatsächlich ist diese Frage nicht einfach zu beantworten. Der hr hat unterschiedliche Behörden gefragt, die an einer Evakuierung oder Versorgung von ukrainischen Kriegsverletzten beteiligt sind. Das BBK (Innenministerium), die Luftwaffe und den Sanitätsdienst der Bundeswehr, das Verteidigungsministerium, das Gesundheitsministerium sowie das Auswärtige Amt.

Zitat
„Bei der Aufnahme von im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine verletzten oder erkrankten Personen unterscheiden wir nicht zwischen Zivilist:innen und Soldat:innen. So sieht es das humanitäre Völkerrecht vor.“ Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe
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Keiner kann oder will die Frage direkt beantworten. Der Tenor: Man mache bei der Behandlung Kriegsverletzter keinen Unterschied zwischen Zivilisten und Soldaten.

Aus Medienberichten ist bekannt, dass sechs teilweise schwer verletzte Soldaten in Aachen behandelt werden. Jedoch wurden sie nicht auf offiziellem Weg dorthin gebracht, sondern über eine private Hilfsorganisation aus den Niederlanden.

Ukraine muss Hilfegesuch stellen

Es drängt sich außerdem die Frage auf: Warum sind bisher insgesamt so wenige Verwundete nach Deutschland gebracht worden, egal ob Zivilisten oder Soldaten? Grundsätzlich muss die Ukraine für solche Patiententransporte zunächst offizielle Hilfegesuche stellen, erst dann werden deutsche Behörden aktiv. Eine hr-Anfrage zur Anzahl und Art dieser Anfragen lies die ukrainische Botschaft bisher allerdings unbeantwortet. Auch das deutsche Außenministerium äußerte sich nicht zu den Hintergründen.

Sollte es nicht an mangelnden Anfragen liegen und auch nicht an der Bereitschaft deutscher Krankenhäusern – dann möglicherweise an den Transportkapazitäten?

Das Innere des Airbus A-310 MedEvac (picture alliance/dpa/Bundeswehr)

Bisher gab es sieben deutsche MedEvac-Flüge aus der Ukraine, durchgeführt im Auftrag des BBK von der Bundeswehr. Auch in Frankfurt kam im Mai einer an. Die Luftwaffe nutzt dafür einen speziellen Airbus. Der A310-304 gilt als Deutschlands fliegende Intensivstation: Er kann bis zu 44 Verletzte liegend transportieren, davon sechs Intensivpatienten.

Doch wie viele dieser A310-Maschinen hat die Bundeswehr eigentlich? Fünf. Bis vor kurzem zumindest.

Vier von fünf Flugzeugen aus Betrieb

Die Luftwaffe bestätigte auf hr-Anfrage: Weil der A310 aus den 1980er Jahren stamme, sei im vergangenen Jahr seine maximale Lebensdauer erreicht worden. Vier der fünf Flugzeuge wurden außer Betrieb genommen, auch aus Kostengründen. Denn: Demnächst soll es in den Niederlanden eine multinationale Einheit mit nagelneuen Flugzeugen geben. Das Problem: Diese Flugzeuge sind noch nicht für MedEvac-Flüge zertifiziert worden, nach Angaben der Bundeswehr rechne man damit "in den kommenden Monaten".

Der Bundeswehr bleibt also bis dahin noch ein – offenbar sehr alter – A310. Und auch das nicht mehr lange. Denn fast hätte es dieses Flugzeug auch nicht mehr gegeben: Ein Sprecher der Luftwaffe sagte dem hr, dass eigentlich auch der letzte A310 Ende Februar außer Betrieb genommen werden sollte. Unmittelbar vor Ausbruch des Kriegs habe man die Nutzungszeit dann kurzfristig verlängert. Jedoch nur um ein halbes Jahr: Ab dem 30. Juni sei eine "bruchfreie Nutzung" des verbleibenden A310 nicht mehr möglich, vorher stünde eine gesetzlich vorgeschriebene mehrmonatige Wartung an.

Zitat
„Eine Verlängerung einer bruchfreien Nutzung dieses Flugzeugs über dieses Datum hinaus ist nicht möglich.“ Sprecher der Luftwaffe Sprecher der Luftwaffe
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Der Bundeswehr-Sprecher teilte zudem mit, dass die Luftwaffe über Alternativen verfüge: So könne man A400-Transportflugzeuge umrüsten und damit auch nach dem 30. Juni ukrainische Patienten nach Deutschland fliegen. Maschinen dieses Typs können allerdings jeweils nur sechs Patienten auf einmal befördern.

Arzt: "Bald muss das Bein amputiert werden"

Georg Müller geht nicht davon aus, dass es in Denis' Fall an fehlenden Transportmöglichkeiten liege. "Es hätte für Denis einen Platz in einem der ersten MedEvac-Flüge gegeben", sagt er.  Ob die Gründe wirklich am Soldatenstaus liegen, kann der Arzt derzeit nur vermuten. "Ich verstehe das einfach nicht. Wir liefern doch Waffen in die Ukraine – wieso werden diejenigen im Stich gelassen, die sie bedienen?"

Dabei wäre es gar nicht viel, was Denis bräuchte, um wieder laufen zu können. Eine künstliche Kniescheibe, das sei in Deutschland eine Standard-OP, berichtet der Arzt aus Mittelhessen. "Aber ohne diese Operation droht ihm eine Amputation." Schon bald könnte es für die Operation zu spät sein. "Es wundert mich, dass das Bein bisher noch nicht abgenommen worden ist." Wenn das passiere, bräuchte der junge Mann aus der Ukraine nämlich auch keinen Transport nach Deutschland mehr.

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