Ein Schild weist den Weg zu einer Arztpraxis.

In Hessen gehen mehr als 1.000 Hausärzte auf die Rente zu, Nachfolger sind vor allem auf dem Land kaum in Sicht. Mit bezahlten Praktika und Zuschüssen zum Studium versuchen zwei Kreise, Medizinstudierende anzuwerben. Klappt das?

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Landpartie für angehende Ärzte

Bildkombination aus zwei Portraits: links Moritz, rechts Anna - beide strahlen in die Kamera.
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Als Anna Abratis vor vier Jahren ihr Medizinstudium begann, stand eine Praxis auf dem Land definitiv nicht auf den oberen Rängen ihrer beruflichen Wunschliste. Die 23-Jährige wuchs in Aachen auf, zog zum Studieren ins niedersächsische Göttingen – und wollte danach Neurologin in einer großen Klinik werden.

Bis ein Praktikum im 4.000-Seelen-Städtchen Wanfried im Werra-Meißner-Kreis ihre Meinung änderte. Im Februar arbeitete sie zwei Wochen lang in der örtlichen Gemeinschaftspraxis mit, lernte die Patienten in persönlichen Gesprächen kennen und sich ohne WLAN in der für sie fremden Kleinstadt zurechtzufinden.

Das sei erfüllender gewesen als gedacht, sagt Anna Abratis rückblickend. So erfüllend, dass sie sich zu ihrer eigenen Überraschung nun doch lieber auf dem Land niederlassen möchte, wenn sie mit ihrer Ausbildung zur Allgemeinmedizinerin fertig ist.

Bis zu 1.000 Euro fürs Praktikum

Ohne das Praktikum wäre sie auf diese Idee nicht gekommen. Für den Werra-Meißner-Kreis ist Anna Abratis damit wohl der Beweis, dass das Projekt "Landpartie" funktioniert. Seit 2019 versucht der Kreis, Medizinstudierende für das Landarzt-Dasein zu begeistern, indem er ihnen Praktika in kleinen Orten wie Wanfried finanziert.

40 angehende Ärztinnen und Ärzte aus Marburg und Göttingen hat das örtliche Gesundheitsamt bisher angeworben, ihnen bis zu 1.000 Euro für Anfahrt und Unterkunft gezahlt – um sie davon zu überzeugen, im Praktischen Jahr wiederzukommen und im besten Fall einmal eine Praxis im Kreis zu übernehmen.

Mehr als tausend Hausärzte in Hessen kurz vor der Rente

Theoretisch könnten alle ehemaligen Praktikanten künftig einen Job im Werra-Meißner-Kreis finden: Die Region ist vom Landarztmangel stark betroffen. Nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen (KV) erreicht in den kommenden fünf Jahren jeder dritte Hausarzt im Kreis das Rentenalter. Im Versorgungsgebiet Eschwege, zu dem Wanfried zählt, wird dann sogar die Hälfte aller Hausärzte älter als 65 Jahre sein.

Der Werra-Meißner-Kreis ist laut KV keine Ausnahme. Auch in anderen Regionen drohe eine Unterversorgung, weil immer weniger angehende Ärzte bereit sind, eine eigene Praxis auf dem Land zu führen. Bis 2027 könnten in ganz Hessen 1.200 der rund 3.800 Hausarztsitze frei werden.

Im ländlich geprägten Vogelsbergkreis ist der Nachwuchsmangel schon heute zu spüren. Viele Hausärzte arbeiten nach Kreisangaben bereits über das Rentenalter hinaus. Inzwischen betreffe das Problem ebenso die niedergelassenen Fachärzte, sagt der Erste Kreisbeigeordnete Jens Mischak (CDU). Man habe deshalb das Stipendienprogramm, das ursprünglich nur für Hausärzte vorgesehen war, auch für angehende Fachärzte geöffnet.

"Letzter Kick" für die Berufswahl

Medizinstudierende, die sich verpflichten, sich nach ihrer Ausbildung mindestens drei Jahre im Vogelsbergkreis niederzulassen, fördert der Kreis bereits während ihres Studiums mit 500 Euro pro Monat. Das verändere keine Überzeugungen, meint Mischak, könne aber "ein letzter Kick" für die Berufs- und Ortswahl sein.

Um Bewerberinnen und Bewerber zu finden, musste der Kreis an den Unis allerdings ordentlich die Werbetrommel rühren. Neun Bewerbungen gingen seit Stipendienbeginn vor sechs Jahren ein, alle neun wurden angenommen.

Der 23-jährige Moritz Schneider ist einer von ihnen. Er studiert im zehnten Semester Humanmedizin und kennt die Region von Geburt an: Schneider wuchs in Nidda in der Wetterau auf, nur zehn Kilometer vom Vogelsbergkreis entfernt. Zwar habe er während seines Studiums auch die Arbeit in einer großen Klinik in Frankfurt kennengelernt, erzählt Schneider. Doch der stressige Klinikalltag, in dem die Patienten schnell abgefertigt würden, habe ihn eher abgeschreckt. Für ihn war schnell klar, dass er seine Patienten als Hausarzt langfristig begleiten und sich bei der Behandlung nicht auf ein Fachgebiet beschränken möchte.

Doch bis es so weit ist, werden noch viele Jahre vergehen: Zuerst muss Schneider im Herbst sein zweites Staatsexamen bestehen, dann folgen das Praktische Jahr und eine fünfjährige Facharztausbildung. Anschließend möchte Schneider zuerst Erfahrung in einer Gemeinschaftspraxis sammeln, bevor er sich vorstellen kann, schließlich eine eigene Praxis im Vogelsbergkreis zu führen.

77 und 75 Jahre alte Ärzte

Die Göttinger Studentin Anna Abratis schätzt ebenfalls, dass sie in acht oder neun Jahren fertig ausgebildet sein wird. Für die Gemeinschaftspraxis in Wanfried ist das zu spät: Zwei der drei Ärzte haben das Rentenalter mit 77 und 75 Jahren längst überschritten. Schon heute ist unklar, wie es morgen weiter geht.

Projekte wie die "Landpartie" seien zwar eine gute Idee, sagt Tim Pippart, der Anna Abratis in ihrem Praktikum betreut hat. Doch das reiche nicht aus, um die Praxen in der Region zu retten. Die Gemeinschaftspraxis habe inzwischen Patienten aus vier Landkreisen, das Einzugsgebiet sei in den vergangenen Jahren immer größer geworden, weil Kollegen keine Nachfolger gefunden hätten.

Land will gegensteuern - aber zu spät?

Das Problem ist nicht neu, und es ist auch der Landesregierung bekannt. Im Februar beschloss der Landtag eine Landarztquote, mit der ein Teil der Studienplätze für angehende Haus- oder Kinderärzte in ländlichen Regionen reserviert werden soll. Doch bis die Quote wirkt, dürften hunderte Hausärzte in Hessen längst in Rente gegangen sein.

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