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In Osthessen werden keine Abtreibungen vorgenommen

Foto: Im Vordergrund hält eine Hand ein Tablet mit einer Ultraschalldarstellung, im Hintergrund unscharf zwei Menschen in grüner medizinischer Schutzkleidung und eine Liege.

Das sogenannte Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche ist passé, doch Informationen sind in manchen Regionen weiterhin schwierig zu finden - geschweige denn eine passende Praxis. Wieso gibt es etwa in Osthessen keinen Frauenarzt, der Abtreibungen durchführt? Und ist das überhaupt ein Problem?

170-mal im Jahr muss Anne Heidel eine Frau enttäuschen. So oft kommen Schwangere in die Pro Familia Beratungsstelle in Fulda. Und genauso oft müssen Heidel oder eine ihrer Kolleginnen den Frauen erklären, dass es im gesamten Kreis schon seit 30 Jahren keine einzige Klinik oder Praxis mehr gibt, die eine Abtreibung nach der gesetzlich vorgeschriebenen Beratung vornimmt.

Zwar stehen auf der Liste, die Heidel den Frauen in die Hand drückt, rund 15 Adressen. Doch weniger als eine Stunde Autofahrt ist davon keine entfernt: Nach Hanau sind es von Fulda 80 Kilometer, nach Marburg 90 und nach Kassel sogar 100 Kilometer. Wie kann es heutzutage noch sein, fragt Heidel sich, dass Frauen in dieser Situation so weite Strecken zurücklegen müssen?

Fulda ist nicht der einzige Kreis in Osthessen, für den Pro Familia einen Mangel an Anlaufstellen beklagt. Auch Maren Colton aus Bad Hersfeld schildert, dass es seit ein paar Jahren in ihrem Kreis sowie dem benachbarten Vogelsberg keine Praxis mehr gibt, in die sie die jährlich knapp 300 Schwangeren mit Abtreibungswunsch schicken kann. Auch sie müssen nach Marburg, Kassel oder ins Nachbarland Thüringen fahren.

Gerade bei Frauen, die wenig Geld oder kein eigenes Auto haben und auch keine Bekannten, die sie um Hilfe bitten möchten, sei das ein Problem, sagt Anne Heidel. Wenn auch der Partner oder die Familie von der Schwangerschaft nichts wissen sollen, könne die Betroffene ihr Recht auf einen Abbruch kaum noch wahrnehmen. Solche Fälle habe sie in den letzten Jahren häufiger gehabt.

Niemand hat den Überblick

Wie viele Frauen das in ganz Hessen betrifft, lässt sich schwer einschätzen. Sicher ist nur, dass im vergangenen Jahr 8.150 Abtreibungen in Hessen durchgeführt wurden – ziemlich genau 22 pro Tag. In Deutschland waren es 2021 rund 95.000. Doch eine Statistik darüber, wie viele Ärzte in welcher Region Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, führt weder die Landesärztekammer noch das Land Hessen.

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Auch das Statistische Bundesamt kann lediglich angeben, dass im ersten Quartal 2022 73 Stellen in Hessen Zahlen zu Schwangerschaftsabbrüchen übermittelt haben. Genaue Rückschlüsse auf die Zahl der Praxen lässt die Angabe aber nicht zu, weil Meldungen auch für mehrere Ärzte gebündelt werden können und darin auch Stellen auftauchen, die zum Beispiel nur eine einzelne Abtreibung nach einem medizinischen Notfall vorgenommen haben.

Bis zu seiner Abschaffung vor ein paar Wochen hinderte der Paragraf 219a des Strafgesetzbuchs Praxen und Kliniken daran, offen über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren, weil die Personen dann mit einer Geld- oder sogar Haftstrafe rechnen mussten. Doch selbst die risikofreie Möglichkeit, eine geduldete Liste der Bundesärztekammer, in die sich die Praxen freiwillig eintragen konnten, wurde selten genutzt. Gerade einmal 17 hessische Adressen stehen darauf – bei insgesamt 527 gynäkologischen Praxen im Land. Auch hier ist keine Anlaufstelle in Osthessen dabei – mit der Asklepios-Klinik in Langen (Offenbach) außerdem hessenweit nur ein Krankenhaus.

"Wie weit weg ist zu weit weg?"

Zwar sind die Bundesländer per Gesetz dazu verpflichtet, ausreichend Einrichtungen für ambulante und stationäre Schwangerschaftsabbrüche anzubieten. Doch was dieses "ausreichend" genau bedeutet, darüber gehen die Meinungen auseinander. Während es aus dem Sozialministerium heißt, diese Auflage sei erfüllt, da jede Frau in Hessen binnen eines Tages eine entsprechende Praxis erreichen könne, fordern SPD und Linke im Landtag, dass dies innerhalb einer Stunde und auch mit dem öffentlichen Nahverkehr möglich sein soll. Wo das nicht der Fall ist, sollten öffentliche Krankenhäuser verpflichtet werden, die Lücke zu schließen, meinen die Oppositionsparteien.

Rechtlich ist dieser Vorschlag schwierig, denn das Schwangerschaftskonfliktgesetz schreibt vor, dass sich Ärzte und medizinisches Personal aus ethischen Gründen weigern dürfen, Abbrüche vorzunehmen. Und auch in der Praxis sei er nicht unbedingt sinnvoll, sagt Sven Becker, Direktor der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe an der Universitätsklinik Frankfurt. Er fühle sich als Frauenarzt in einem nicht-konfessionellen Krankenhaus durchaus verpflichtet, einen sicheren Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen anzubieten, um illegale und meist gefährliche Abbruchsmethoden zu vermeiden. "Aber wir müssen uns fragen: Wie weit weg ist überhaupt zu weit weg?"

Zum einen würden viele Frauen die Anonymität einer Großstadt schätzen, wo sie niemandem Rechenschaft schuldig seien, sagt Becker. "Außerdem ist es medizinisch doch sicherer für die Patientin, wenn sie in eine große, spezialisierte Klinik in Frankfurt kommt, in der pro Tag mehrere Schwangerschaftsabbrüche gemacht werden und der Eingriff Routine ist, als in ein kleines Haus auf dem Land, das das vielleicht nur ein paar Mal im Jahr macht."

"Kein Thema für Krankenhäuser"

Tatsächlich gehen die Kliniken in Hessen bisher sehr unterschiedlich mit Abtreibungen um. Während beispielsweise das Kreiskrankenhaus Erbach (Odenwald) und die Kreisklinik Groß-Umstadt (Darmstadt-Dieburg) mitteilten, Abbrüche nach einer entsprechenden Beratung durchzuführen, nehmen das Klinikum in Bad Hersfeld und die Frauenklinik am Hochwaldkrankenhaus in Bad Nauheim (Wetterau) Abtreibungen nur in medizinischen Notfällen vor. Im Klinikum Fulda äußerte man sich ebenfalls zurückhaltend: Schwangerschaftsabbrüche seien "kein Thema für Krankenhäuser", sondern würden "in aller Regel im ambulanten Bereich vorgenommen", teilte eine Sprecherin mit.

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Bundesweite Zahlen zu Abtreibungen in Krankenhäusern hatte das Recherchezentrum Correctiv im März veröffentlicht. Demnach nimmt jede fünfte öffentlich geführte Klinik in Deutschland einen Schwangerschaftsabbruch nach der Beratungsregel vor, also auf Wunsch der Schwangeren innerhalb der ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft. Den Bedarf spiegelt das nicht wider: 96 Prozent der Abbrüche wurden laut Statistischem Landesamt im vergangenen Jahr auf Wunsch der Schwangeren nach einer Beratung und nur vier Prozent aus medizinischer Notwendigkeit durchgeführt.

Debatte ideologisch aufgeladen

Das System funktioniere trotzdem, meint Frauenklinikdirektor Sven Becker. Schließlich würden die Abtreibungen bisher nahezu "geräuschlos" und vor allem von den niedergelassenen Gynäkologen, also ambulant und mit Medikamenten, durchgeführt. "Problematische Abbrüche, auch Fälle, in denen die Abtreibung spät erfolgt, landen bei uns", sagt Becker. Da könne er aktuell Entwarnung geben. Stattdessen habe er den Eindruck, in der öffentlichen Debatte um Abtreibungen werde "aus ideologischen Gründen ein Problem herbeigeredet, das es so nicht gibt".

In zehn Jahren allerdings könnte das anders aussehen, warnt auch Becker im Hinblick auf das hohe Alter vieler niedergelassener Frauenärzte. Nach Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen sind diese im Schnitt 54 Jahre alt, ein Viertel könnte bis 2025 in Rente gehen. Für viele junge Mediziner sei eine eigene Praxis nicht so attraktiv, sagt Becker. "Das könnte zu einem Engpass führen, auch im Rhein-Main-Gebiet."

Kristina Hänel: Keine Empfehlung mehr für den Beruf

Neben moralischen Bedenken oder der Scheu davor, eine eigene Praxis zu führen, könnten auch andere Gründe die Gynäkologen künftig davon abhalten, Abtreibungen vorzunehmen. Eine, die das wissen muss, ist die Gießener Ärztin Kristina Hänel. Jahrelang lieferte sie sich mit den Gerichten einen Kampf um den nun abgeschafften Paragrafen 219a – und wurde dafür häufig angefeindet.

Die Angst habe sie über Jahrzehnte verfolgt, sagte Hänel einmal im Interview mit hr-info. Angefangen habe es mit persönlichen Drohungen auf einem Spielplatz, auch damals schon, als sie noch nicht in der Öffentlichkeit gestanden habe. Später kamen Drohmails dazu. Bis heute werde sie verfolgt, gestalkt. Immer sei da diese Sorge, dass die verbale Bedrohung einmal in körperliche Gewalt umschlagen könnte. "Eigentlich kann ich keine Empfehlung mehr für den Beruf aussprechen, weil ich nicht möchte, dass ein Mensch, der mir nah steht, sich in diese Gefahr begibt."

Hinzu komme die schlechte Vergütung der Schwangerschaftsabbrüche, schrieb Hänel in einer Stellungnahme an den Landtag. Dass ein kostendeckendes Arbeiten nur schwer möglich sei, trage ebenfalls dazu bei, dass immer weniger Stellen Abbrüche anbieten würden. Dieser Umstand und wohl auch ihre Bekanntheit haben dazu geführt, dass sie selbst in ihrer Praxis nahezu täglich Abtreibungen durchführt – auch bei Patientinnen aus Osthessen.

Niederlande, Österreich – und künftig digital?

Schwangerschaftsabbrüche müssten endlich entkriminalisiert werden, fordert Maren Colton von Pro Familia in Bad Hersfeld. "Solange sie noch im Strafgesetzbuch vorkommen, sind sie ein Tabu – für die Schwangeren, und auch für viele Ärzte." Wenn die Frauen in der Nähe keine Möglichkeiten fänden, seien sie ja trotzdem entschlossen, abzutreiben, sagte Kristina Hänel in hr-info. Viele führen dann in die Niederlande oder nach Österreich, oder sie ließen sich aus dem Ausland eine Abtreibungspille schicken. Schlimmstenfalls fielen sie auf unseriöse Angebote rein.

Von der Frauenministerkonferenz der Bundesländer kam derweil Anfang des Monats ein Vorstoß: Der Bund solle prüfen, ob auch die Telemedizin für sichere Abtreibungen eingesetzt werden könne.

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