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Wohlfahrtsverband: Armut in Hessen so hoch wie nie zuvor

Ein halbes Stück Brot auf einem sonst leeren weißen Teller. Daneben Messer und Gabel.

Immer mehr Menschen in Hessen sind arm. Das geht aus dem Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands hervor. Auch im Ländervergleich steht Hessen schlecht da. "Wir laufen mit Anlauf in die Katastrophe", sagt Verbandssprecherin Alinaghi.

Die Armut in Hessen ist auch im vergangenen Jahr gestiegen. Sie erhöhte sich von 17,4 Prozent auf 18,3 Prozent, wie aus dem aktuellen Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands hervorgeht. Die Zahlen erreichen damit einen historischen Höchststand. Auch im Vergleich mit anderen Bundesländern fällt Hessen von Platz 7 auf Platz 11 zurück.

"Die Lage in Hessen verschlechtert sich dramatisch", sagt Yasmin Alinaghi, Landesgeschäftsführerin des Sozialverbands. "Wir haben eine Abwärtsspirale, die seit Jahren anhält und sich in den letzten Jahren immer schneller dreht."

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Mit der Armutsquote gibt der Bericht den prozentualen Anteil der Menschen an der gesamten Einwohnerzahl an, der als arm gilt. Im Jahr 2015 lag Hessen noch direkt hinter Baden-Württemberg und Bayern auf dem dritten Platz der Bundesländer. Bei den jetzt veröffentlichten Zahlen für das vergangene Jahr fällt Hessen bei der Armutsquote auf die vorletzte Stelle unter den westdeutschen Flächenländern und liegt nur noch knapp vor Schlusslicht Nordrhein-Westfalen.

Yasmin Alinaghi

Dem Armutsbericht liegt der Begriff der relativen Armut zugrunde. "Es wird also gemessen, was braucht es, um an der Gesellschaft teilzuhaben und ab welchem Moment die Menschen ausgeschlossen sind", erklärt Landesgeschäftsführerin Alinaghi. "Dazu gehört, dass man nicht ins Kino gehen kann, dem Kind keinen Kindergeburtstag ausrichten oder keine Freizeitaktivitäten machen kann, aber auch, dass man sich nicht gesund ernähren kann."

Armutsquote in Mittelhessen am höchsten

Im hessenweiten Vergleich ist mit 20,1 Prozent die Armutsquote in Mittelhessen am höchsten. Auf Platz 2 folgt Nordhessen mit 18,6 Prozent. In Osthessen liegt die Quote bei 18 Prozent, in Südhessen bei 17,8 Prozent und im Rhein-Main-Gebiet bei 17,7 Prozent.

Weitere Informationen

Wer gilt als arm?

  • Der Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands und das Statistische Bundesamt verwenden einer EU-Konvention entsprechend die Definition der relativen Armut. Demnach gelten Haushalte als arm, deren Einkommen unter 60 Prozent des mittleren Einkommens liegen.
  • Diese Schwelle lag 2021 bundesweit bei einer alleinstehenden Person bei einem monatlichen Netto-Einkommen von 1.148 Euro, bei einem Paar ohne Kinder bei 1.721 Euro. Alleinerziehende mit einem Kind unter 14 Jahren sind demnach arm, wenn sie weniger als 1.492 Euro im Monat zur Verfügung haben, bei einem Paar mit zwei Kindern sind es 2.410 Euro.
  • Die Zahlen beziehen sich auf das gesamte Nettoeinkommen des Haushaltes inklusive Wohngeld, Kindergeld, Kinderzuschlag, anderer Transferleistungen oder sonstiger Zuwendungen.
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Insgesamt führten etwa prekäre, schlecht bezahlte Jobs und steigende Mieten zu Armut, sagt Alinaghi. Die gebe es aber in allen Bundesländern. Warum die Armut gerade in Hessen stärker steige als anderswo, sei unklar. Die Landesgeschäftsführerin sieht die schwarz-grüne Landesregierung in der Pflicht und fordert, sie müsse unbedingt Ursachenforschung betreiben.

Regierung verweist auf Sozialbericht im Herbst

Das zuständige Sozialministerium wolle sich aktuell nicht zur Armut in Hessen äußern, teilte eine Sprecherin dem hr mit. Man warte auf den ausführlicheren Landessozialbericht im Herbst. Dieser war zuletzt 2017 erschienen und soll in diesem Jahr insbesondere die Situation Alleinerziehender beleuchten. Zudem verweise man auf eine Landtagsdebatte Anfang Juni, in der Sozialminister Kai Klose (Grüne) betonte, dass zu viele Menschen nicht am Wohlstand und damit nicht an der Gesellschaft teilhaben könnten.

In der Debatte hatte Klose gesagt, dass durch eine "dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt" das Armutsrisiko verringert werden könne. Die Landesregierung setze bei Qualifikation und Bildung an und unterstütze mit verschiedenen Programmen benachteiligte Menschen. Dazu zählten Langzeitarbeitslose, Menschen mit Flucht oder Migrationshintergrund, geringem Bildungsgrad oder in schwierigen familiären Verhältnissen.

Armut trifft auch Erwerbstätige und Selbstständige

Wohlfahrtsverband-Geschäftsführerin Alinaghi ist dieser Blick auf Armut zu eng. "Es ist ein Trugschluss, dass vornehmlich Menschen von Armut betroffen sind, die nicht arbeiten", betont sie. "Armut ist nicht nur ein Problem von Menschen mit niedrigen beruflichen Qualifikationen." Bundesweit sei sie unter Erwerbstätigen deutlich gestiegen, insbesondere unter Selbständigen.

Der Armutsbericht zeige, dass knapp 50 Prozent der von Armut betroffenen Menschen über 25 Jahren mindestens die Fachhochschulreife oder eine abgeschlossene Lehre hätten, 13,5 Prozent verfügten sogar über einen hohen Bildungsabschluss wie zum Beispiel einen Meister oder ein abgeschlossenes Studium.

Insgesamt gebe es Menschen in bestimmten Lebenssituationen, die besonders betroffen sind. "Höchsstände von Armut haben wir unter den Rentner*innen und wir haben Kinder und Jugendliche, die sehr von Armut betroffen sind", sagt Alinaghi. Armutsgefährdet seien außerdem vor allem Alleinerziehende und Familien mit mehreren Kindern.

Wohlfahrtsverband: Landesregierung muss gegensteuern

Angesichts steigender Energiekosten und Inflation fordert der Paritätische Landesverband die Landesregierung auf, gegenzusteuern. "Die Landesregierung könnte Absprachen mit den Energieversorgern treffen, um Energiesperren zu verhindern und Beratungsangebote schaffen für diejenigen, die ihre Heizkosten nicht mehr zahlen können", sagt Alinaghi.

Auch ein Notfallfonds wäre denkbar, Schuldnerberatungen sollten ausgebaut und die Tafeln stärker unterstützt werden. "Mit den explodierenden Kosten ist abzusehen, dass noch mehr Menschen ihre Gas- und Ölrechnung nicht bezahlen können. Wir laufen mit Anlauf in die Katastrophe", so Alinaghi.