Kaum geeignete Plätze in Hessen Zu krank für zu Hause, zu jung fürs Pflegeheim

Raffaella Galassi ist 36, an MS erkrankt und kann sich nicht mehr alleine versorgen. Doch einen Platz im Pflegeheim sucht sie seit Jahren vergeblich. Denn die sind mit jungen Patienten oft überfordert.
Raffaella Galassi weiß nicht mehr weiter. Seit drei Jahren klappert die Gießenerin die Pflegeheime in ihrer Umgebung ab und kassiert eine Absage nach der anderen. Mitte Oktober hat sie die Hoffnung auf einen passenden Heimplatz aufgegeben. "Für die meisten Altenheime bin ich zu jung und viele Einrichtungen für Behinderte nehmen keine Menschen, die künstlich ernährt werden. Ich falle durch jedes Raster", klagt sie.
Vor sieben Jahren erkrankte Galassi an Primär Progredienter Multipler Sklerose (PPMS), einer seltenen Form der Krankheit. Ihre MS verläuft nicht in den typischen Schüben, sondern ihr Zustand verschlechterte sich deutlich schneller als bei den meisten Patienten. Im Juni 2019 kam noch ein Schlaganfall dazu. Inzwischen kann die 36-Jährige nur noch eine Hand bewegen. Über einen Port wird sie mit flüssiger Nahrung versorgt und außerdem künstlich beatmet.
Vier von fünf jungen Pflegebedürftigen werden zuhause betreut
Zwar sieht ein mobiler Pflegedienst zweimal am Tag in ihrer Singlewohnung nach dem Rechten und wechselt zum Beispiel den Katheter. Ihr 17-jähriger Sohn, der bei seinem Vater lebt, besucht sie mehrmals in der Woche. Doch Galassi hat Angst, dass ihr zwischen den Besuchen etwas zustößt. Ein bis zweimal am Tag wird sie von Krampfanfällen geschüttelt.
Anschließend fällt sie stundenlang in Tiefschlaf, kann danach oft tagelang nicht sprechen. Manchmal kippt sie auch mit ihrem Rollstuhl um. "In meinem Zustand kann ich nicht mehr allein bleiben. Ich bin eine Zumutung für meine Nachbarn. Aber wo soll ich denn sonst hin?"
„Das Problem ist seit Jahren dasselbe: Es fehlen Plätze.“Zitat Ende
Nicht nur in Gießen sind Heimplätze für Menschen im Alter Rafaella Galassis rar gesät. Etwa 2.100 Menschen unter 60 Jahren leben nach Angaben des Statistischen Bundesamts in Hessen in einem Pflegeheim - so ergab es die jüngste Erhebung Ende 2019. Das sind 4,4 Prozent aller Pflegebedürftigen dieser Altersgruppe. Vier von fünf jüngeren Pflegebedürftigen werden ohne professionelle Unterstützung von den Angehörigen zuhause betreut.
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Wer wie Raffaella Galassi keine Eltern mehr hat, die sich kümmern können, falle häufig in ein "Versorgungsloch", sagt Heinz Rothgang, der die Abteilung Gesundheit, Pflege und Alterssicherung am Socium-Forschungszentrum in Bremen leitet. Für die Barmer-Krankenkasse erstellte Rothgang im Jahr 2017 einen Report über die sogenannte "Junge Pflege", also die Versorgung pflegebedürftiger Menschen unter 60 Jahren.
Lange Wartelisten in der jungen Pflege
1.700 junge Pflegebedürftige wurden dafür zu ihrer Wohnsituation befragt. Demnach klaffen Wunsch und Realität häufig auseinander. Gerade Menschen, die noch bei ihren Eltern leben, wünschen sich häufig, in eine Wohngemeinschaft oder eine betreute Wohngruppe umzuziehen. Was sie am häufigten daran hindert: das fehlende Angebot. Daran habe sich bis heute nichts geändert, sagt Studienautor Rothgang. "Das Problem ist nach wie vor dasselbe: es fehlen Plätze."
32 dieser seltenen Plätze bietet das Pflegeheim Casino in Wetzlar an. Seit es vor 16 Jahren begonnen hat, sich auch um jüngere Menschen zu kümmern, gibt es dort keinen einzigen freien Platz. "Einerseits ist die Nachfrage so hoch, andererseits bleiben die zu Pflegenden sehr lange bei uns", sagt Heimleiterin Susanne ter Jung. Einige Bewohner sind schon seit 16 Jahren da. Raffaella Galassi wäre Nummer 24 auf der Warteliste.
„Auch als Behinderte brauche ich ein bisschen Privatsphäre.“Zitat Ende
Die Alloheim-Gruppe, zu der das Casino gehört, beobachtet an allen acht Standorten, die bundesweit auf junge Pflege spezialisiert sind, eine hohe Nachfrage. Die Zahl der Plätze werde "in naher Zukunft" aufgestockt, sagt eine Sprecherin. Auch in Hessen soll dazu ein Altenheim umgerüstet werden. Dazu sei allerdings mehr und speziell geschultes Personal erforderlich. Auch das Haus Minneburg, die zweite Einrichtung für junge Pflege in Wetzlar, berichtet von Schwierigkeiten bei der Suche nach Pflegekräften. Zurzeit könnten wegen des Mangels neun der 74 Betten nicht belegt werden.
Wie viele Plätze in der Jungen Pflege insgesamt fehlen, lässt sich nur schwer beziffern. Der Landeswohlfahrtsverband geht von etwa 25 Heimen aus, in denen derzeit jüngere Erwachsene mit schweren Erkrankungen langfristig versorgt werden. Das wären gerade einmal drei Prozent der insgesamt 800 Heime in Hessen. Die meisten von ihnen führen eine Warteliste.
Junge Heimbewohner beklagen Zustände
In den wenigen Heimen, die Junge Pflege anbieten, sind die Lebensbedingungen sehr unterschiedlich. Verbindliche Standards gibt es nicht. "Ich habe mir Zimmer angeschaut, die so dunkel waren wie mein Keller", erzählt Galassi. "In anderen Heimen werden aus Einzelzimmern Doppelzimmer gemacht werden, um mehr Plätze zu schaffen. Ein Bett steht dann direkt vor dem Klo. Die vergessen anscheinend, dass man auch als Behinderte ein bisschen Privatsphäre braucht."
Caroline Schmitt kennt solche Probleme. Die Professorin für Migrations- und Inklusionsforschung in Klagenfurt hat ausführliche Interviews mit zwei Betroffenen geführt. Beide lebten in Heimen, die nicht auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten waren: Ohne WLAN waren sie zum Beispiel von ihrem sozialen Umfeld abgeschnitten. In der analogen Welt blieben sie an ihre Zimmer gefesselt, weil die Pflegekräfte sowieso schon überlastet waren und sie nur selten nach draußen begleiten konnten.
"Lücke, die nicht im Blick ist"
Es fehle die Sensibilisierung dafür, dass Pflege nicht nur ältere Menschen betreffe, sondern auch Jüngere mit anderen Bedürfnissen. "Pflegebedürftigkeit kann in jedem Alter auftreten", sagt Schmitt. Junge Menschen würden aus verschiedensten Anlässen pflegebedürftig – etwa nach schweren Unfällen, Lähmungen oder eben einem Schlaganfall und MS wie im Fall von Raffaella Galassi.
"In der Gesellschaft wird gerade so eine große Debatte um Inklusion und Diversität geführt. Aber junge Menschen im Pflegeheim sind bisher nicht im Blick", sagt Inklusionsexpertin Schmitt. "Das ist eine Lücke." Pflege sei sowieso kein Thema, über das Betroffene gerne sprechen würden. "Das ist gerade bei jüngeren Betroffenen auch schambehaftet. Scham trägt mit Sicherheit dazu bei, dass das Thema in der Öffentlichkeit kaum behandelt wird."
Briefwechsel mit Regierung half nicht
In ihrer Verzweiflung schrieb Raffaella Galassi Ende Januar einen Brief an die Landesregierung. Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) versprach ihr daraufhin, die Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen werde sich ihres Falls annehmen – doch dazu kam es bisher nicht.
Fragt man beim Sozialministerium nach den Gründen, heißt es: Auf ein Antwortschreiben habe sich Galassi nicht mehr gemeldet. Wie hätte sie das tun sollen: Sie lag damals monatelang auf einer Palliativstation, konnte weder sprechen noch telefonieren, geschweige denn Post verschicken. "Ich hatte das Gefühl, die Regierung fühlt sich sowieso nicht für Einzelfälle zuständig", sagt Galassi. Einen "Gnadenbesuch" habe sie auch im Anschluss an ihren Krankenhausaufenthalt nicht gewollt.
Neues Gesetz könnte Heimsituation verschärfen
Aus Sicht des Sozialministeriums handelt es sich um einen Einzelfall. Weitere Beschwerden über fehlende Pflegeplätze für jüngere Menschen seien nicht bekannt, teilt eine Ministeriumssprecherin mit.
Dabei könnte sich der Pflegeplatzmangel in den kommenden Monaten für Menschen wie Galassi noch verschärfen. Und das ausgerechnet durch Konkurrenz von Patienten, die gar nicht ins Heim wollen. Denn ds neue Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz könnte mehr junge Menschen ins Heim zwingen – selbst dann, wenn sie lieber zuhause gepflegt würden, fürchten Kritiker. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen soll künftig begutachten, ob die Wohnungen dafür alle Qualitätskriterien erfüllen. Ende des Monats soll ein Bundesausschuss die Details festlegen.
Für Raffaella Galassi immerhin könnte es nach drei Jahren in der Warteschleife eine Lösung geben. Mit Hilfe einer Bekannten, die nicht locker ließ, hat sie ein Zimmer in einer Einrichtung der jungen Pflege in Aussicht - nur ein paar hundert Meter von ihrer jetzigen Wohnung entfernt. Schon Anfang November soll sie probeweise einziehen. Offen ist allerdings, ob das Sozialamt die Kosten in Höhe von mehreren tausend Euro übernimmt, die Galassi als Eigenanteil zahlen soll. Das Geld hat sie nicht.