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60 Jahre Anwerbeabkommen: Türkeistämmige ziehen Bilanz

5er Collage mit unterschiedlichen Protagonisten

Was hat die "Gastarbeit" mit der zweiten und dritten Generation gemacht? 60 Jahre nach dem Anwerbeabkommen mit der Türkei erzählen fünf hessische Kulturschaffende von Dankbarkeit, von schlechtem Gewissen - und dem Leben zwischen zwei Welten.

Sie packten ihre Koffer mit dem Ziel, für eine kurze Zeit in Deutschland zu arbeiten und dann in ihre Heimat zurückzukehren: die sogenannten Gastarbeiter aus der Türkei. Aber viele blieben. Sie gründeten Familien, bekamen Kinder und Enkel. 

Einige aus dieser zweiten und dritten Generation fühlen sich noch immer "zwischen den Kulturen". Wie blicken sie heute - 60 Jahre danach - auf das Anwerbeabkommen? Fünf hessische Kulturschaffende berichten.

"Türkische Musik war ein Abtauchen in eine andere Welt"

Cem Aslantaş (33) lebt in Darmstadt. Er ist Musiker und macht türkische Pop-Folklore. Viele seiner Songs sind Neuauflagen teils Jahrhunderter alter türkischer Lieder.

Ein Mann mit Glatze und dunkelm Vollbart lächelt in die Kamera. Er trägt ein beige-farbenes Sakko, eine schwarze Weste und ein weißes Hemd. Der Hintergrund ist schwarz.

"Meine Eltern haben früh festgestellt, dass ich musikalisch begabt bin. Mit ungefähr 13 Jahren haben sie mich dann angemeldet beim Unterricht für türkische Gitarre. Nachdem ich sie ein bisschen beherrscht habe, bin ich auf kleinen Feiern aufgetreten. Das hat sich rumgesprochen und jetzt mache ich das professionell. In der Schule haben wir Deutsch gesprochen, aber sobald uns unsere Eltern abgeholt und wir im Auto gesessen haben, haben wir türkische Musik gehört. Das war so ein Abtauchen in eine andere Welt.

Es war immer ein bisschen schwer, weil man diese beiden Kulturen verbinden musste. Ich bin die dritte Generation. Mein Opa ist ganz alleine gekommen mit einem Koffer. Die ersten Gastarbeiter wollten hier nur Geld verdienen und zurück in die Heimat fahren. Und später haben sie die Kinder nachgeholt, weil sie sie vermisst haben. Diese Kinder haben hier die Schule besucht, eine Ausbildung gemacht, Jobs angefangen und selbst geheiratet. Dann kamen wir.

Mein Opa hat erzählt, dass es in der Türkei keine Arbeit gab. Aber es war ein sehr schwerer Entschluss - auch für meine Oma, weil sie meinen Vater und seine Geschwister zwei Jahre bei der Tante lassen mussten. Ich bin sehr dankbar dafür, was mein Opa für uns gemacht hat. Er hat alles auf eine Karte gesetzt, kannte die Sprache und die Kultur nicht, wusste nicht, was ihn hier erwartet und hat sein Leben in der Türkei einfach zurückgelassen.

Ein Herz von mir ist immer in der Türkei. Das andere Herz schlägt hier. Das ist meine Heimat, weil ich hier geboren und aufgewachsen bin. Aber alles, was ich habe, habe ich eigentlich nur meinem Opa zu verdanken."

"Es ist absolut nicht selbstverständlich, was für ein Leben wir hier führen"

Hasret Aslantaş (33) lebt mit ihrem Mann Cem in Darmstadt. Sie hat Sozialpädagogik studiert und ist heute Influencerin und Modemacherin.

Eine Frau mit langen dunklen Haaren sitzt an einem Fenster und blickt in die Kamera.

"Ich bin Mama von zwei tollen Jungs und habe dadurch angefangen auf Instagram zu bloggen. Ich habe das Kulturelle erst mal komplett außen vorgelassen. Dann hat sich eine Community entwickelt, die hauptsächlich aus Deutschtürken besteht. Das waren dann die, die gedacht haben 'Hey, es ist eine Türkin, auch aus einer Gastarbeiterfamilie, hier geboren, hier aufgewachsen, die sich hier hochgearbeitet hat.'

Ich liebe alte türkische Filme oder alte türkische Lieder und wenn ich die dann laufen lasse oder einfach mal mitsinge, merke ich, wie krass glücklich meine Community wird. Viele verbinden damit ein Stück Türkei, Vergangenheit und Heimat. Wir sind total dankbar, in einem Land mit so vielen Möglichkeiten geboren und aufgewachsen zu sein. Das ist ein unglaublicher Luxus. Aber ich vermisse auch die Türkei.

Mein Opa hat uns das alles ermöglicht, hat alles aufgegeben, ist so harte Wege gegangen. Ich könnte mir das heute nicht vorstellen, mit meinem Koffer alleine auszuwandern, in einem fremden Land arbeiten zu müssen, wo ich die Sprache nicht beherrsche, die Kultur nicht kenne, wo ich keinen gesellschaftlichen Anschluss habe, ganz alleine bin und meine Familie nicht sehe. Das haben sie jahrelang für uns ausgehalten. Sie haben auf ihr eigenes Leben verzichtet.

Und dafür stehe ich auch tatsächlich jeden Tag und in jeder meiner Instagram-Sequenzen: dass es absolut nicht selbstverständlich ist, was für ein Leben wir hier führen. Wir hatten Glück und mein Opa hatte diesen Mut, das einfach durchzuziehen und uns dieses bessere Leben zu ermöglichen. Ich habe meine Modelinie deshalb auch meinem Opa gewidmet."

"Ich wünsche mir, dass die Kunst bewertet wird, nicht wo jemand herkommt"

Yüksel Acun (39) lebt in Offenbach. Dort betreibt er eine Eisdiele. Außerdem ist er als Stand-up-Comedian auf TikTok aktiv.

Yüksel Acun steht in seiner Eisdiele. Er trägt einen schwarzen Kapuzenpulli und einen Dreitagebart. Links von ihm sieht man verschwommen eine Eistheke und im Hintergrund Gläser in einem Regal.

"Wenn man als Türke in Deutschland Comedy betreibt, ist man im Nachteil. Wenn jemand auf der Bühne steht, das hab ich als Zuschauer gelernt, beurteile ich nur die Kunst. Mir ist egal, ob er Türke ist oder deutsch. Wenn er mich zum Lachen bringt, ist er lustig. Aber ich weiß, dass es Leute gibt, die da sitzen und sagen 'Nein, bei dem lache ich nicht'. Ich wünsche mir, dass die Kunst bewertet wird, nicht wo jemand herkommt.

Mein Papa ist mit dem berühmt-berüchtigten Koffer 1973 hergekommen, 1974 hat er meine Mama nachgeholt und meinen drei Monate alten Bruder. Er hat erst mal auf der Baustelle in Stuttgart gearbeitet, obwohl er Zahntechniker war. Ein Jahr später sind sie nach Offenbach gezogen. Andere in der Moschee haben gesagt, die Kinder sollen einen Hauptschulabschluss machen und schnell arbeiten gehen. Mein Vater wollte das nie. Er hat sich geopfert für uns.

Meine Schwester ist Zahnärztin. Mein Bruder hat auch studiert, ich habe studiert. Ihm ging es nicht darum, dass wir schnell Geld nach Hause bringen, sondern dass wir was in der Hand haben. Gerade bei meiner Schwester war ihm das wichtig. Er hat immer gesagt: Niemand soll sie unterdrücken können.

Er erzählt immer, dass er es am Anfang sehr schwer hatte. Dass er oft von seinen Chefs beleidigt wurde, er es aber nicht verstanden hat. Und immer mit einem Lächeln reagiert hat. Später hat er dann gemerkt, dass er über Jahre beleidigt beschimpft wurde. Das tut mir heute weh. Vielleicht hätte mein Vater damals meine Hilfe gebraucht."

"Wir haben alle etwas voneinander abgeguckt"

Canan Topçu (56) lebt und arbeitet als freie Journalistin in Hanau. Sie kam als Achtjährige mit ihren Eltern nach Deutschland.

Canan Topcu (Autorin und Journalistin) in der ZDF-Talkshow maybrit illner am 23.03.2017 in Berlin

"Die deutlichsten, prägendsten Erinnerungen meiner Kindheit waren, dass sich zumindest in der Schule alle sehr um mich bemüht haben am Anfang. Die Mädchen, die mich an die Hand nahmen und durch die Schule führten, mir alles zeigten, mit mir auch Zeit verbringen wollten. Und dann endete das aber und sie verloren das Interesse an mir. Ich hab das nicht verstanden. Ich war dann eben nicht mehr die Exotin, die Neue, die Besondere und sie verloren ihr Interesse an mir.

Woran ich mich auch sehr gut erinnere: Ich hatte einen türkischen Klassenkameraden, Mustafa, und ich ging davon aus, wir sind Landsleute, er würde zu mir stehen, wenn ich gedisst oder außen vorgelassen wurde. Er hat sich aber überhaupt nicht mit mir solidarisiert. Das war eine Erfahrung, die ich auch in mein späteres Leben mitgenommen habe, dass geografische Herkunft einen nicht unbedingt dazu bringt, dass man sich verbündet und solidarisiert.

Das Anwerbeabkommen ist auf jeden Fall ein Erfolg für beide Seiten. Nicht nur die türkische Migration, sondern insgesamt die Anwerbeabkommen mit unterschiedlichen anderen Ländern haben dazu geführt, dass Deutschland tatsächlich viel pluraler geworden ist im Habituellen, was die Esskultur angeht, was die Gastfreundschaft angeht. Wir haben alle etwas voneinander abgeguckt.

Wenn Sie sich mal vorstellen, wie Deutschland vor 70, 80 Jahren war und wie es jetzt geworden ist - natürlich hat das auch mit der Migration von Menschen aus anderen Ländern zu tun. Und ein Gewinn für Menschen, die aus der Türkei migriert sind, ist es schon. Auch wenn man sich die Frage stellt: Was wäre aus den Familien geworden, wenn sie zurückgekehrt wären oder dort geblieben wären? Hätten sie da bessere Chancen gehabt?"

"Dieses Schubladensystem muss weg"

Nazım Alemdar (63) betreibt zwei Kioske mit dem Namen "YokYok" in Frankfurt. Einer davon - der Laden in der Altstadt - läuft unter dem Stichwort "KiosKunst". Hier finden beispielsweise Ausstellungen, Lesungen und Konzerte statt. YokYok heißt wörtlich übersetzt "Gibt's nicht, gibt's nicht".

Nazim Alemdar, Betreiber des "Yok Yok", steht in seinem Laden. Er trägt einen blauen Pulli und eine Brille. Im Hintergrund sind Getränkeflaschen und Chipstüten zu sehen.

"Meine Frau kommt aus einer ganz kleinen Kleinstadt. Die hatten zwei Straßen. Ich war der erste Ausländer in diesem Ort. Es gab nicht mal eine Eisdiele, keine Pizzeria. Und als ich mit meiner Frau zum Schwimmbad gegangen bin, haben mich die Leute angeschaut nach dem Motto 'So ein dunkler Mann'. Aber ich war der beliebteste Schwiegersohn! In Deutschland habe ich nur insgesamt ein Jahr in einer Fabrik gearbeitet, dann wurde ich selbstständig.

Zuerst habe ich Videokassetten gemacht für türkische Landsleute, dann habe ich Bücher importiert und verkauft. Vor zehn Jahren habe ich unseren Lagerraum renoviert und angefangen, Künstlern einen Raum zu geben, die noch nicht ausgestellt haben. Wir haben viele aus verschiedenen Ländern und Kulturkreisen dagehabt und ich habe ihnen Mut gemacht.

Dann kamen die Flüchtlinge nach Deutschland. Ich habe die Leute am Bahnhof beobachtet, Hilfsorganisationen und Vereine. Mit großen Schildern, Essen, Trinken und so weiter. Ich dachte: Mein Gott, mit Wasser und Cola können wir niemanden integrieren. Musik und Kunst - diese zwei Sachen sind für Integration ganz einfach zu haben und bringen viel.

Wir haben dann bei einer Erstaufnahmestelle einen kreativen Malkurs für Flüchtlingskinder angefangen und das hat viel bewegt. Da habe ich das Projekt Kunstkiosk gestartet: Ich habe zum Beispiel mehrere Ausstellungen gehabt mit Künstlern aus der Türkei, Brasilien, Polen, Österreich, Armenien und noch viel mehr. Aber ich sehe die Künstler nicht als Perser oder Deutsche, nein! Künstler ist Künstler und wir müssen endlich kapieren, dass dieses Schubladensystem weg muss!"

Protokolliert von Jannika Kämmerling und Dagmar Fulle.

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Anwerbeabkommen mit der Türkei

Am 30. Oktober 1961 unterzeichneten die deutsche und die türkische Regierung das sogenannte Anwerbeabkommen, das die Entsendung von Arbeitskräften aus der Türkei nach Deutschland regelte. Nach den in den Vorjahren geschlossenen Abkommen mit Italien, Spanien und Griechenland konnten sich nun auch türkische Arbeitskräfte für eine Stelle in Deutschland bewerben. Damit sollte der damals herrschende Arbeitskräftemangel kurzfristig ausgeglichen werden. Ihre Aufenthaltsdauer war auf maximal zwei Jahre begrenzt. Aber viele blieben. Heute bilden Türkeistämmige eine der größten Gruppen mit Migrationshintergrund in Deutschland.

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