Schulbücher liegen auf einem Pult.

Er kam selbst als Kind als Flüchtling aus dem Irak: Junis Sultan ist Lehrer und hat ein Buch über seine Fluchterfahrungen geschrieben. Er sagt im Interview: Die Sprache ist der Schlüssel zur Bildung. Auch für die Kinder, die jetzt aus der Ukraine nach Deutschland kommen.

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Junis Sultan: "Die Gesellschaft ist offener und diverser geworden."

Porträtfoto Junis Sultan
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Viele Menschen suchen derzeit in Deutschland Zuflucht vor dem Krieg in der Ukraine. Er kann ihre Situation gut nachempfinden: Junis Sultan kam vor rund 30 Jahren als Kind auf der Flucht vor dem Zweiten Golfkrieg. Heute ist der 35-Jährige Lehrer an einer Gesamtschule in Hofheim am Taunus und promoviert in Politischer Theorie. Vor Kurzem ist sein Buch "Glaubenskriege - von Fremden und Freunden" erschienen. Im hessenschau.de-Interview erzählt er, dass das Bildungssystem durchlässiger sein müsste und warum Kinder mit Migrationshintergrund mehr Vorbilder in der Schule brauchen.

hessenschau.de: Was brauchen die ukrainischen Kinder und Jugendlichen Ihrer Ansicht nach jetzt am meisten?

Junis Sultan: Die Herausforderung wird jetzt sein, ihnen das Gefühl zu geben, dass sie immer noch Kinder sind. Es fängt an mit kleinen Gesten, mit einem Lächeln, vielleicht mit kleinen Spielen oder gemeinsamen Aktionen, die nicht unbedingt auf Sprache basieren, dass man ihnen dadurch versucht, das Gefühl von Sicherheit zu geben. Und von Normalität.

hessenschau.de: Sie unterrichten als Lehrer auch so genannte "Intensivklassen". Sind da auch schon Kinder aus der Ukraine angekommen?

Junis Sultan: Bisher nicht. Wir hatten vor ein paar Wochen vermehrt wieder Kinder aus Afghanistan. Wir haben aber auch schon länger einen Schüler aus der Ukraine, der uns vor zwei Wochen mitgeteilt hat, dass er seinen besten Freund verloren hat in der Ukraine.

hessenschau.de: Die Intensivklassen wurden aufgrund der starken Zuwanderung 2015 und 2016 eingeführt. Wie viel bringen sie wirklich?

Junis Sultan: Sehr viel. Die Schüler haben da einen Raum, wo sie viel individuelle Förderung bekommen, wo nicht nur mit einem Buch gearbeitet wird, sondern mit sehr, sehr vielen unterschiedlichen Materialien. Die Klassen sind relativ klein, das heißt die Betreuung ist intensiver. Und sie haben in diesen zwei Jahren quasi Noten-Schutz und können intensiv die deutsche Sprache erlernen. Die zu beherrschen, ist absolut zentral im deutschen Bildungssystem.“

hessenschau.de: Es gibt eine "ethnische Bildungsungleichheit", also dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund noch immer im deutschen Bildungssystem benachteiligt werden. Wie kommt es dazu?

Junis Sultan: Ich denke, überwiegend liegt es an der frühen Dreigliedrigkeit unseres Bildungssystems. Weil man so Kinder bestimmter Ethnien schon in der vierten Klasse in bestimmte Bildungszweige reindrängt, vor allem auf der Basis, wie gut sie deutsch sprechen. Und weil bei den Gymnasialempfehlungen auch oft immer noch berücksichtigt wird: Ja, haben die Eltern überhaupt die Fähigkeiten, das Kind auf dem Gymnasium zu fördern? Also sprachlich und intellektuell und so weiter. Und wenn das nicht als gegeben angesehen wird, dann reproduziert sich natürlich die soziale Ungleichheit.

Inwiefern ist das so?

Wenn man einmal in einer Hauptschulklasse ist, ist es viel schwerer, sich hoch zu arbeiten als andersherum, das ist durch Studien belegt. Da wird also, wenn ein Kind zehn Jahre alt ist, entschieden: Das ist deine Laufbahn, das kann aus dir werden oder das kann nicht aus dir werden. Das ist auf jeden Fall ein spezifisch deutsches Problem.

Was müsste sich denn ändern im deutschen Bildungssystem?

Junis Sultan: Längeres gemeinsames Lernen und regelmäßige externe Kontrollen der Entscheidungen, die Pädagog:innen treffen, zum Beispiel bei der Notenvergabe oder bei der Schulempfehlung, das wäre schon ein großer Schritt, um für mehr Bildungsgerechtigkeit zu sorgen.

hessenschau.de: Könnte Bildung gerechter sein, wenn mehr Lehrkräfte selbst einen Migrationshintergrund hätten?

Junis Sultan: Zumindest ist man als Lehrer mit Migrationshintergrund für die sprachlichen Barrieren sensibler, aber auch für interkulturelle Fragen vielleicht etwas offener. Und es geht auch darum, Vorbilder zu schaffen. Mich fragen oft Schüler oder Schülerinnen: Wo kommen sie denn wirklich her? Und wie haben Sie das gemacht? Ich will auch mal Lehrer werden. Also das ist, denke ich, auch für die Schüler sehr wichtig, umso mehr, wenn sie diese Vorbilder vielleicht nicht unbedingt in der Familie haben.

hessenschau.de: Ihre eigenen Flucht- und Integrationserfahrungen haben Sie in einem sehr persönlichen Buch festgehalten. Warum?

Junis Sultan: Dass Menschen aufgrund von Krieg, Klimawandel oder anderen Notlagen flüchten müssen, das ist mittlerweile so eine universelle Geschichte geworden. Meine Hoffnung war, dass ich diesen Menschen mit dem Buch etwas Mut geben kann. Dass sie diese schwierigen Phasen überwinden. Und vielleicht sogar etwas aufbauen können, womit sie gar nicht gerechnet haben.

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