Friedenspreisträger Serhij Zhadan

Der ukrainische Autor Serhij Zhadan wird am Sonntag mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Auf der Frankfurter Buchmesse sprach er über russische Verbrechen, aber auch über Fantasien und Träume.

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Serhij Zhadan auf der ARD-Bühne

Serhij Zhadan mit ARD-Mikrofon in der Hand
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Ob er momentan Zeit für Fantasie, zum Träumen hat, wird Serhij Zhadan bei der traditionellen Vorstellung des Friedenspreisträgers auf der Frankfurter Buchmesse gefragt. Zhadan lehnt sich in seinem Stuhl zurück, blickt zur Decke, überlegt kurz und antwortet: "Meine Fantasien sind wohl eher konkret. Etwa, wie meine Freunde und ich den Menschen in den kürzlich befreiten Gebieten helfen können." Außerdem fantasiere er davon, wie er zwei Autos über Polen in die Ukraine bringen könne.

Neben seinem literarischen Werk ist es dieses Engagement, für das der 48 Jahre alte Schriftsteller am Sonntag mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt wird. Zhadan lebt weiter im ostukrainischen Charkiw, organisiert Konzerte, rettet Menschen aus umkämpften Vierteln, liest Gedichte und verteilt Hilfsgüter in der Stadt. Seine jüngsten Artikel über die Situation in der Ukraine sind aktuelle Zeitdokumente darüber, wie die dort lebenden Menschen im Angesicht von Gewalt und Bedrohung versuchen, ihren Alltag zu organisieren.

"Meine Fantasien sind nicht besonders fröhlich"

Zur Vorstellung ist er so gekommen, wie man ihn meistens auf Fotos sieht: Er trägt eine Lederjacke über einem schwarzen, kragenlosen Hemd, graue Jeans und schwarze Schnürlederstiefel. Die Haare hat er an den Seiten abrasiert, über der Stirn liegt eine Tolle. Den Fragen hört er konzentriert zu, blickt vor sich, während er im Schoß die Hände knetet. Ab und zu fährt er mit einem Finger über den Rand des Tisches oder umfasst den Mikroständer. Er lächelt selten, das Pensum, das er derzeit absolviert, ist seinen Augen anzusehen.

Auch seine Träume seien konkret, erzählt Zhadan weiter. Etwa in seine Geburtsstadt Starobilsk im kürzlich von Russland annektierten Gebiet Luhansk zurückkehren zu können. "Da ist das Grab meines Vaters", sagt er. "Dort war ich seit über einem Jahr nicht mehr. Meine Mutter sogar zwei Jahre. Sie sehen, meine Fantasien sind nicht besonders fröhlich."

Ob er persönlich irgendeine Hilfe brauche, wird Zhadan weiter gefragt. "Es würde helfen, wenn der Krieg zu Ende ginge", antwortet er mit einem leichten Lächeln. "Ich persönlich brauche nichts. Ich bin zufrieden. Ich habe meiner Mutter letzte Woche einen Ofen gekauft, damit sie den Winter überstehen kann."

"Die Wahrheit ist auf unserer Seite"

Von der Auszeichnung habe er über deutsche Freunde erfahren. Eine echte Freude komme aber nicht auf, vermische sich sofort mit den Nachrichten, die er ständig verfolge und von denen er sich auch im sicheren Frankfurt nicht lösen könne. Nachrichten über Raketenangriffe, Tote und zerstörte Infrastruktur in seiner Heimat. Mut mache bei alldem das Gefühl, "dass die Wahrheit auf unserer Seite ist", betont Zhadan. "Wir haben niemanden überfallen. Wir wollen nur unser Land verteidigen."

Mut machten außerdem die Menschen, die weitermachten, sich opferten, auch wenn die wenigen Nachrichten aus den besetzten Gebieten nicht gut seien. "Ich bekam vor kurzem einen Anruf, ein Klassenkamerad von mir ist zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt worden", erzählt Zhadan weiter. Für Menschen wie ihn sei eine Rückeroberung der annektierten Gebiete die größte Hoffnung.

"Putin war nicht persönlich in Butcha"

Der Krieg sei ganz klar ein Krieg Russlands: "Putin war nicht persönlich in Butscha." Es seien junge russische Männer gewesen, "die russische Schulen absolviert haben, dort auch klassische Literatur studiert haben". Diese jungen Männer hätten dort Frauen vergewaltigt und Ukrainer ermordet.

Der beißenden Kritik des ukrainischen Verlegerverbandschefs Oleksandr Afonin am Schweigen der russischen Verlagsbranche schloss sich Zhadan an. Bis 2014 habe man versucht, Kontakte herzustellen und zu pflegen. Nach der Annexion der Krim hätten sich die Beziehungen stark verändert. "Ich habe nur zwei Nachrichten von einem Kollegen und einer Kollegin bekommen", berichtet Zhandan. "Der Mann schlug vor, dass wir uns ergeben sollen. Die Frau hat sich entschuldigt." Namen wolle er nicht nennen.

Ob er über den Krieg schreiben will, wisse er noch nicht, sagt Zhadan. "Für uns Ukrainer ist es erst einmal wichtig, den Krieg zu überleben." Erlebtes bleibe aber ohnehin haften und werde irgendwann in seine Bücher einfließen.

Das ist Serhij Zhadan

Serhij Zhadan wird am 23. August 1974 in der damaligen Sowjetrepublik Ukraine geboren. Er wächst in einfachen Verhältnissen auf: Sein Vater ist Lastwagenfahrer, seine Mutter arbeitet in einem Laden. Zur Literatur kommt er über seine Tante, die Dichterin Oleksandra Kowaljowa. Mit 17 Jahren zieht er in die 1,5-Millionen-Einwohner-Stadt Charkiw, wo er Literaturwissenschaft, Ukrainistik und Germanistik studiert und unter anderem ein Kreativkollektiv gründet.

Erste Erfolge hat er mit seinen Romanen "Depeche Mode" (2004) und "Die Erfindung des Jazz im Donbass" (2012). Gleichzeitig tritt er als Musiker auf, etwa als Sänger der Band "Sobaki v kosmosi" (Hunde im Weltraum). Inzwischen ist der Schriftsteller, Übersetzer und Musiker einer der wichtigsten Künstler seines Landes. Er zählt zu den innovativsten Stimmen der ukrainischen Gegenwartsliteratur und schreibt Songtexte für verschiedene Rockbands.

Seine Romane, Gedichte, Erzählungen, Reportagen und Essays widmen sich insbesondere der Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem seit 2014 in der Ukraine herrschenden Krieg. Schauplätze seiner Texte sind vor allem die Stadt Charkiw und die Ostukraine. Seine Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und erhielten internationale Preise. Für die Übersetzung seines Romans "Internat" erhielt er 2018 den Preis der Leipziger Buchmesse. Darin erzählt er eindrücklich vom Krieg im Donbas und der Politisierung der dortigen Bevölkerung.

Ein Beispiel für sein soziales und kulturelles Engagement ist die von ihm gegründete "Serhiy Zhadan Charitable Foundation". Seit 2017 fördert die Stiftung Bildungs- und Kulturinitiativen in den Kriegsgebieten der Ostukraine. Seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat sich Zhadans soziale Arbeit verstärkt.

Friedenspreis des Deutschen Buchhandels

Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wird seit 1950 vergeben und ist mit 25.000 Euro dotiert. Geehrt werden Persönlichkeiten, die in Literatur, Wissenschaft oder Kunst zur Verwirklichung des Friedensgedankens beigetragen haben. Die Preisverleihung findet traditionell am letzten Tag der Frankfurter Buchmesse, also am Sonntag in der Paulskirche statt. Die Verleihung wird um 10.45 Uhr in der ARD übertragen. Auch hr2-kultur überträgt.

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