Letzte Reste vom umstrittenen und abgebauten Kunstwerk "People's Justice" vom Künstlerkollektiv Taring Padi stehen auf dem Friedrichsplatz vor dem Museum Fridericianum.

Die documenta in Kassel will ein Fest der Weltkunst sein. Immer wieder sorgte sie auch für Aufreger. Doch die aktuellen Vorwürfe, antisemitische Kunst zu zeigen, haben eine andere Dimension als die Kontroversen früherer Jahre. Die verheerende Bilanz der ersten Woche.

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Skandal-Ausstellung: documenta 15

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Was war passiert?

Ein Werk namens "People's Justice" des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi sorgte kurz nach der Eröffnung der Weltkunstausstellung wegen antisemitischer Bildsprache für eine Welle der Empörung. Die Verantwortlichen der documenta entschieden zunächst, das Werk mit schwarzen Stoffbahnen zu verhängen. Am Dienstagabend wurde es dann ganz abgebaut.

Was ist an der Bildsprache antisemitisch?

Die beiden diskutierten Bildausschnitte des documenta-Banners bedienen sich ältester judenfeindlicher Motive. Da ist das Schweinsgesicht eines Soldaten: Seit der frühen Neuzeit verbreiteten unter anderem Geistliche anderer Glaubensrichtungen immer wieder die Mär, Juden tränken das Blut von Kindern. Pogrome waren die Folge, Schweineköpfe als Zeichen für Unreinheit wurden vor die Türen von Juden geschmissen.

Und da ist der "hässliche Jude": Mittels Zerrbild mit Hakennase stellten christliche Maler im Mittelalter die vermeintlich "Anderen" dar, das Motiv des Blutsaugers tauchte in unterschiedlicher Form auf. Hintergrund waren Abgrenzungen des Christentums von der "Vaterreligion" des Judentums, die gemeinsamen Ursprünge wurden verdrängt und verleugnet. Diese Bildsprache hat auch die Shoa, den ersten und einzigen industriellen Massenmord der Menschheit, argumentativ begleitet.

Antisemitisches Banner auf der documenta

Die Vorgeschichte: ein Skandal mit Ansage

Anfang des Jahres kamen zunächst unkonkrete Antisemitismus-Vorwürfe gegen documenta und das kuratierende Team auf. Die documenta wies die Vorwürfe stets zurück, wollte das Thema aber in mehreren Foren mit Expertinnen aus Kolonialismus- und Rassismusforschung, Holocaust- und Antisemitismusforschung sowie Kunst und Kultur diskutieren. Nach Kritik des Zentralrats der Juden an der Zusammensetzung der Foren und dem Umgang mit Antisemitismus wurde die Reihe abgesagt. Man wollte die Ausstellung für sich sprechen lassen - mit den bekannten Folgen.

Am kommenden Mittwoch (29. Juni) soll nun doch ein gemeinsam mit der Bildungsstätte Anne Frank ausgerichtetes Podiumsgespräch stattfinden - als Auftakt zu "weiteren Gesprächen", wie die documenta-Geschäftsführung Sabine Schormann am Donnerstag ankündigte. Die Ausstellung soll zudem auf weitere kritische Werke geprüft werden, Kunstministerin Angela Dorn (Grüne) erwartet in dieser Sache "zeitnah" Ergebnisse. "Eindeutig antisemitische Darstellungen werden deinstalliert, bei strittigen Positionen eine angemessene Debatte geführt", sagte Generaldirektorin Schormann.

Wie funktioniert die documenta eigentlich?

Träger der alle fünf Jahre stattfindenden Kunstausstellung ist eine gemeinnützige Gesellschaft, die documenta und Museum Fridericianum gGmbH. Gesellschafter und Geldgeber dieser gGmbH sind die Stadt Kassel und das Land Hessen. Der Bund ist formal nicht beteiligt, ist über die Kulturstiftung des Bundes aber als Finanzgeber mit im Boot.

Im Aufsichtsrat der gGmbH sitzen nur Vertreter von Land und Stadt. Aufsichtsratsvorsitzender ist der jeweilige Oberbürgermeister der Stadt Kassel, aktuell Christian Geselle (SPD). Künftig will der Bund aber mehr Einfluss: Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) bezeichnete den Rückzug des Bundes aus dem Aufsichtsrat 2018 bei gleichzeitigem Festhalten an der Bundesförderung als "schweren Fehler". Das soll sich wieder ändern - was Sabine Schormann in einem hr-Interview kritisch sah.

Schormann als Generaldirektorin und die künstlerische Leitung stehen unter dem Aufsichtsrat. Schormann hat ihren Posten seit 2018 inne. Trotz Rücktrittsforderungen will sie ihre Aufgabe weiter wahrnehmen. Die jeweiligen künstlerischen Leitungen werden alle fünf Jahre von einer Findungskommission bestimmt. Für die 15. documenta fiel die Wahl auf ein Künstlerkollektiv aus Indonesien: Ruangrupa. Zum ersten Mal wird die documenta nicht von einer Einzelperson verantwortet.

Wieso die Kuratoren so viel Macht haben

Der Kasseler Kunstwissenschaftler und documenta-Kenner Harald Kimpel nennt es "das Tafelsilber der documenta: der Nicht-Einfluss der Politik auf die Kunst". Die strikte Trennung zwischen denen, die das Geld geben, und denen, die die künstlerische Freiheit haben, es auszugeben, ist für Kimpel der Kern der documenta. Das betont auch Generaldirektorin Schormann: Die Weltkunstschau setze sich "durch die Kunstfreiheit konstitutiv zusammen", sei also deren Grundlage, sagte sie im hr-Interview.

Deswegen werden Kunstwerke vorher auch nicht begutachtet oder gar zensiert. documenta-Experte Kimpel hält eine Vorab-Zensur weder für machbar noch für gewollt. Der Grundgedanke der documenta sei, der künstlerischen Leitung freie Hand zu lassen: "Die können dann auch eine Bierdeckelsammlung zeigen." Damit gehe die documenta aber alle fünf Jahre aufs Neue ein Risiko ein. "Bisher hat das immer geklappt, diesmal ist es schiefgegangen."

Das Kollektiv als Problem

Schiefgegangen ist es diesmal wohl auch wegen des Kollektiv-Prinzips, mit dem Ruangrupa arbeitet. Denn die Künstlergruppe hat zu dieser documenta fast ausschließlich weitere Kollektive eingeladen. "Da Kollektivität im Mittelpunkt steht, haben wir zunächst 14 Kollektive eingeladen, ein transnationales Netzwerk aufzubauen, gefolgt von der Einladung von 53 Künstlern, darunter viele Kollektive, die wiederum weitere Beteiligte einluden", erklärte Ruangrupa kurz vor den Preview-Tagen ihren Ansatz. Damit ist die Zahl der Einzelteilnehmer nach Angaben von Schormann mittlerweile auf über 1.500 angewachsen.

Was sagen der Zentralrat der Juden und die Jüdische Gemeinde?

Der Zentralrat der Juden in Deutschland übte scharfe Kritik an den Künstlern und den Ausstellungsmachern. "Kunstfreiheit endet dort, wo Menschenfeindlichkeit beginnt", sagte Zentralrats-Präsident Josef Schuster. "Auf der documenta wurde diese rote Linie überschritten." Auch nachdem das Banner von Taring Padi entfernt wurde, forderte Schuster personelle Konsequenzen - ohne Namen zu nennen.

Die Jüdische Gemeinde Kassel wies in einer gemeinsamen Stellungnahme mit dem Sara-Nussbaum-Zentrum für Jüdisches Leben darauf hin, dass Antisemitismus "in keinem Sinn eine Befindlichkeit von Jüdinnen und Juden ist, sondern eine alltägliche Realität." Es gehe nicht um "negative Gefühle, sondern um unsere Sicherheit in Deutschland". Antisemitismus sei auch keine "kulturelle Eigenart".

Wer übernimmt die Verantwortung?

Bislang fallen die Entschuldigungen in der Sache eher verhalten aus. Eine erste Stellungnahme von Ruangrupa hatte am Montag sogar für noch mehr Empörung gesorgt. Von verschiedenen Seiten wurde unter anderem Schormanns Rücktritt gefordert, die das bislang ablehnt und auch am Donnerstag im hr-Interview wieder auf den Kontext verwies, in dem das Werk entstand - trotzdem sei es "unverzeihlich, dass es gezeigt wurde". Die Künstler gingen mit dem Abbau nicht nur "auf die Gefühle, sondern auf die Belange des Gastgeberlandes spezifisch ein".

Das kuratierende Kollektiv Ruangrupa bat am Donnerstag denn auch um Entschuldigung: "Wir haben alle darin versagt, in dem Werk diese klassischen antisemitischen Figuren zu entdecken ('The truth of the matter is that we collectively failed to spot the figure in the work, which is a character that evokes classical stereotypes of antisemitism')", schrieb es in einer englischsprachigen Stellungnahme. "Es ist unser Fehler. Wir entschuldigen uns für die Enttäuschung, die Schande, Frustration, Verrat und Schock, die wir bei den Betrachtern verursacht haben." Man wolle sich nun über "die grausame Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus" weiterbilden und sei "schockiert, dass diese Figur es in das fragliche Werk geschafft hat", das sich eigentlich auf die indonesische Geschichte beziehe.

Das für das Bild verantwortliche Künstlerkollektiv Taring Padi erklärte am Freitag auf der Website der documenta, es sei "schockiert und traurig über die mediale Berichterstattung, die uns als antisemitisch bezeichnet". Den Vorwurf des Antisemitismus wies das Kollektiv "mit Nachdruck" zurück. "Wir bedauern zutiefst, in welchem Ausmaß die Bildsprache unserer Arbeit People’s Justice so viele Menschen beleidigt hat." Insbesondere bei der jüdischen Gemeinde, aber auch bei allen anderen Besucherinnen und Besuchern entschuldigte sich Taring Padi. Man habe aus dem Fehler gelernt und "erkenne jetzt, dass die Bildsprache im historischen Kontext Deutschlands eine spezifische Bedeutung bekommen hat".

Wie groß der Schaden ist - oder noch werden könnte

Eins ist sicher: Das Medienecho auf diese Eröffnungswoche war verheerend: Von "Die Schande der documenta" über "Rocky Horror Picture Show" bis zu "Warum schaute Roth bei Judenhass weg?" lauteten die Schlagzeilen. Einen Rücktritt gab es: Der langjährige Vorsitzende des documenta-Forums, Jörg Sperling, legte am Donnerstag sein Amt nieder, nachdem sich andere Mitglieder des Vereins von seinen Aussagen distanziert hatten.

Zuvor hatte er kritisiert, dass das Kunstwerk von Taring Padi "auf politischen Druck hin" abgehängt worden sei. Zudem erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), er werde die documenta diesmal wegen des Eklats nicht besuchen - was wiederum Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle (ebenfalls SPD) als "unangemessen" kritisierte.

Ob der Schaden nachhaltig ist, weiß Kulturwissenschaftler Kimpel nicht zu sagen. Die bisherigen "Skandale" waren aus seiner Sicht eher "Provokationen", bei denen sich Einzelne über Einzelaspekte aufgeregt haben. Diesmal habe der Skandal "eine andere Qualität": Die Debatte habe die Kunst verlassen und sich in die Politik verschoben. Man habe es jetzt mit einer "entkunsteten, politisierten documenta" zu tun.

Dass die Geschichte der documenta damit zu Ende ist, glaubt Kimpel nicht. "Es wird mit Sicherheit eine 16. documenta geben." Jede documenta sei anders gewesen als die vorherigen, "sie muss sich immer neu erfinden". Die Frage ist, welche Lehren die kommende documenta aus dieser ziehen wird. Im Rückblick, so Kimpel, sei immer die aktuelle documenta die schlechteste aller Zeiten, erst retrospektiv finde man an der vorhergegangenen auch immer etwas Gutes.