Die Orangerie in Kassel, davor stehen auf einer Wiese Stoffballen und Elektroschrott

Es geht um den Blick der Armen auf den reichen Westen, um Formen des Widerstands mit Mitteln der Kunst und praktizierte Gastfreundschaft: Diese documenta ist eine Aufforderung zum Mitmachen und zum Diskutieren. Ein erster Rundgang in Kassel.

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documenta 15 startet in Kassel

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Auf der Wiese vor der Kasseler Orangerie sind Stoffballen zu einer begehbaren Installation aufgetürmt, in ihrem Inneren läuft eine Videoinstallation. Ein Mann in einem schicken Anzug sagt: "Kleidung ist ein Ausdruck von Würde". Gebrauchte Kleidung, die von der Nordhalbkugel der Erde in afrikanische Länder geschickt werde, sei das Gegenteil: Ein Problem, Kleidungsschrott. Der Süden müsse unbezahlt den Müll vom Norden aufräumen, wo sei da die nachhaltige Lösung?

Jeder, der schon mal alte Textilien mit gutem Willen in einen Altkleidercontainer gestopft hat, dürfte sich spätestens jetzt ertappt fühlen - und das ist Absicht. Das Kunst-Kollektiv The Nest Collective aus Kenia hat genau für diesen Effekt Stoffballen, Elektroschrott und Plastikmüll zur documenta 15 gebracht. "Return to the Sender" heißt die Installation, zurück zum Absender.

Die Perspektive wechseln

Die Arbeit "Return to the Sender" zeigt den Perspektivwechsel der documenta 15. Diese ist politisch, viele der Kollektive sind nicht nur Künstler, sondern auch Aktivisten. Die Länder, die in Europa als "globaler Süden" gelten, zeigen ihre Kunst, ihre Kämpfe und halten dem Westen damit den Spiegel vor. Ab Samstag wird die Ausstellung für alle Besucherinnen und Besucher geöffnet, seit Mittwoch kann sich Fachpublikum umschauen. Ein erster Rundgang zeigt: Diese documenta ist eine Aufforderung, kritisch zu denken und die globalen Probleme anzugehen.

Schutz durch Aufmerksamkeit aus Europa

So will etwa das Kollektiv Instituto de Artivismo Hannah Arendt (INSTAR) den Menschen das echte Kuba zeigen: "Wir wollen dem Publikum kubanische Realität zeigen", sagt die Künstlerin Tania Bruguera, "das Regime hält die Kubaner als Geiseln". Bruguera ist Teil des Kollektivs, das in den documenta-Hallen ausstellt.

Das Bild über Kuba im Ausland sei verzerrt, Kuba sei eben nicht Buena Vista Social Club und bunte Sozialismusromantik. Kinder würden hungern, aber für neue prächtige Hotels sei Geld da: Hotels, die auch in deutschen Reisebüros als authentische Kuba-Erfahrung zwischen Rum und schönen Menschen in freizügiger Kleidung auf den Spuren von Che Guevara angeboten werden. Bruguera ist eine bekannte Künstlerin, sie stellte bereits auf der documenta 11 aus und lebt mittlerweile in den USA im Exil. Andere Künstler des Kollektivs leben und arbeiten noch in Kuba, trotz aller Repressalien. Ist ihr Beitrag auf der documenta 15 ein Risiko für sie? Im Gegenteil, sagt Bruguera: "Es ist ein Schutz für uns." Schutz durch Aufmerksamkeit aus Europa.

Propaganda mit Gegenpropaganda anprangern

Das Kollektiv hat Bilder von Freunden und anderen Menschen an die Wände gehängt, die keinen Schutz hatten und in Kuba im Gefängnis sitzen oder zensiert werden. In einem anderen Raum sind Fotos von Gesichtern auf Stoffe gedruckt und über Holzstäbe gestülpt worden, leere Augen sehen den Betrachter an.

Eine Maske mit Foto ist über einen Holzstab gestülpt

Künstler Hamlet Lavastida, Teil des Kollektivs INSTAR, saß selbst zwei Monate in Haft, er zeigt auf das Bild, eines Freundes, der zu sieben Jahre Gefängnis verurteilt wurde. Das "Verbrechen", das er begangen habe: Kunst und Aktivismus. Gerade vor wenigen Tagen teilte die kubanische Generalstaatsanwaltschaft mit, dass insgesamt 381 Oppositionelle zu teilweise hohen Gefängnisstrafen verurteilt worden, die im Juli vergangenen Jahres gegen das Regime protestiert hatten. 36 Verurteilte erhielten demnach Freiheitsstrafen von bis zu 25 Jahren Haft. 16 der Verurteilten sind jünger als 18 Jahre.

Lavastida klagt den kubanischen Nachrichtensender "NTVmiente" an. Der Sender verbreite jeden Tag Lügen. Deshalb wolle INSTAR auf der documenta Propaganda gegen die kubanische Propaganda machen, erklären die Künstler: "Counter-Propaganda" nennen sie das. Es sei eine wichtige Frage, wie soziale Kunst ausgestellt werde, sagt Tania Bruguera. Auf dieser documenta gebe es keine Trennung zwischen Kunst und Aktivismus: "Fifty-fifty" sei das Verhältnis, die eine Hälfte politischer Kampf, die andere Kunst. "Es geht um die schmerzhaften Situationen, die Menschen in ihren Heimatländern haben", sagt die Künstlerin - die documenta sei eine Aufforderung, diese Dinge zu diskutieren.

Totenschädel in der Kirche

Die haitianische Revolution, Voodoo und kollektives Arbeiten wollen Atis Rezistans (Widerstandskünstler) und Ghetto Biennale aus Haiti mit den Besucherinnen und Besuchern in Kassel in Veranstaltungen diskutieren. Mehr als 30 Künstlerinnen und Künstler sind dafür angereist. In der baufälligen Kirche St. Kunigundis im Kasseler Osten haben sie sich mit ihrer Kunst eingerichtet. Unter dem Dach hängt eine Installation, die die Straßenzüge von Port au Prince nachbildet.

Der Kirchenraum mit Metallskuplturen

Vor dem Altar liegt eine in weiße Laken gehüllte Skulptur, ein Totenschädel schaut Richtung Besucher. Skulpturen aus Metallresten mit überdimensionierten Penissen stehen davor. Der Künstler André Eugène von Atis Rezistans war mit ähnlichen Werken bereits 2011 bei der Venedig Biennale im ersten haitianischen Pavillion vertreten. Damals sagte er dem Tagesspiegel: "Woanders gehört die Kunst der Bourgeoisie, wir sind Ghettokünstler." Die von der Diözese wegen Baumängeln aufgegebene Kirche wandelt sich mit der Kunst von Atis Rezistans in einen andächtigen Raum, als wären Geister oder der Geist von Haitis Straßen zu Besuch gekommen.

Steriles Hallenbad bremst Kunst aus

Das Institut für bürgernahe Kultur Taring Padi aus Indonesien hat im Hallenbad Ost eine Ausstellung der letzten Jahrzehnte ihres Schaffens installiert, mit großflächigen Bildern und Figuren aus Pappe, deren Arme mit Fäden bewegt werden können. Über Wochen haben die Künstler Menschen aus Kassel eingeladen, selbst solche Figuren zu bauen, die eigentlich für Prozessionen und Protest genutzt werden - auch in Kassel.

Firguren aus Pappe stehen auf einer Wiese vor dem Hallenbad Ost

In dem kühlen und minimalistischen Innenraum des ehemaligen Schwimmbades wirken die farbenprächtigen Bilder aber eher wie Fremdkörper, die darauf warten, schnell wieder abgeholt zu werden. Und auch davor stehen die Figuren starr, ihre Wirkung scheint sich nicht entfalten zu können, wenn niemand an ihren Fäden zieht.

Mitmachen, wenn es etwas mitzumachen gibt

Diese documenta ist mit zahlreichen Veranstaltungen, über 60 allein am Eröffnungswochenende, eine Aufforderung zum Mitmachen und zum Diskutieren. Um die Kunst zu verstehen und um etwas zu erleben, müssen die Besucherinnen und Besucher selbst aktiv werden. Gelegenheiten gibt es genügend, etwa beim malischen Kollektiv Festival Sur Le Niger im documenta 15-Spielort Hübner Areal. Die Künstler zeigen, wie sie alte Traditionen des Lernens und Zusammenseins in einer Welt von Whatsapp und Computerspielen bewahren.

Besucher, die nur für einen Tag nach Kassel kommen, könnten das Problem bekommen, gerade irgendwo zu sein, wo nichts passiert - und womöglich auch nicht viel zu sehen ist. Ein Blick in das laufende Programm lohnt sich hier. Das Kollektiv Festival Sur Le Niger hat im Hübner-Areal auch ein Zelt aufgebaut, mit Sitzkissen im Kreis. "Der Tee ist alles", erklärt der Direktor, Mamou Daffé. Man soll doch wiederkommen, wenn mehr los ist und ein bisschen über Mali und Deutschland reden: "Wir sind hier um Menschen kennenzulernen".

Das ist ganz im Sinne des indonesischen Kuratorenkollektivs Ruangrupa: "Nonkrong", eines der Credos dieser documenta, heißt so viel wie "Rumsitzen und Diskutieren". Besucher sollten für diese documenta also genug Zeit mitbringen - und die Bereitschaft, sich selbst zu hinterfragen.

Weitere Informationen

documenta 15 in Kassel

Die documenta findet vom 18. Juni bis zum 25. September in Kassel an 32 Orten statt. Über 50 Kollektive und Einzelpersonen sind beteiligt. Das Handbuch von Ruangrupa zur documenta kostet 25 Euro und ist auch auf Englisch erhältlich. Tickets für die documenta gibt es hier, den virtuellen Kalender mit allen Workshops und Veranstaltungen gibt es hier.

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