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100 Jahre Institut für Sozialforschung

Blick in die Adorno-Bibliothek im Institut für Sozialforschung mit den Büchern, die Theodor W. Adorno hier zusammengefasst hatte.

Die "Frankfurter Schule" machte die Stadt in den 1930er-Jahren zum deutschen Zentrum der Philosophie. Nun feiert das Institut, an dem Intellektuelle wie Theodor W. Adorno wirkten, seinen 100. Geburtstag.

Frankfurt, 1923: Die Goldenen Zwanziger nehmen gerade Anlauf, da bringt Felix Weil, Erbe eines Getreidegroßhändlers aus Argentinien, nach heutigem Wert etwa 60 Millionen Euro in eine bürgerliche Stiftung ein. Mit der finanziert er ein außergewöhnliches Projekt: das Institut für Sozialforschung (IfS). Dort sollen Sozialismus und die Arbeiterbewegung erforscht werden.

Konkret geht es um die Theorien von Karl Marx und ihre Bedeutung für eine zukünftige Gesellschaft. Durch das IfS wird die Stadt bald zum Zentrum der deutschen Philosophie, die Ideen von Akteuren wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno finden weltweit Anklang. Wieso? Und was ist heute - 100 Jahre später - davon noch übrig? Fragen und Antworten zum IfS.

Warum wurde das Institut für Sozialforschung gegründet?

Bereits 1919 wird an der Frankfurter Goethe-Universität der erste Soziologie-Lehrstuhl Deutschlands eingerichtet, finanziert über eine private Stiftung. Hier treffen sich Kaufmannssohn Felix Weil, Sozialphilosoph Max Horkheimer und Literatursoziologe Leo Löwenthal als junge Männer. Sie teilen eine fixe Idee: Sie wollen - beeinflusst von den Theorien Karl Marx' und Sigmund Freuds - eine neue linke Gesellschaftstheorie entwerfen.

Nach der Gründung des IfS 1923 machen sie es sich zur Aufgabe, die alte Theorie von Karl Marx aus interdisziplinärer Sicht - also aus der Sicht verschiedener wissenschaftlicher Bereiche - neu zu interpretieren.

Das im Jahr 1951 fertig gestellte Gebäude beherbergt das Institut für Sozialforschung (IfS)

Wieso wird das IfS 1923 ausgerechnet in Frankfurt gegründet?

Frankfurt nimmt als freie Stadt damals eine Sonderstellung unter den großen deutschen Städten ein: Dort gibt es seit dem 18. Jahrhundert ein reiches, selbstbestimmtes Bürgertum, das seine Kultur und Wissenschaft weitgehend selbstbestimmt über Stiftungen finanziert - das passende Umfeld für das IfS.

Leo Löwenthal, der in den 1920er-Jahren halbtags am IfS arbeitet, beschreibt den Gründungskreis des IfS als "junge, linke, politisch intellektuelle Figuren der frühen Weimarer Zeit".

Wer hat am IfS gearbeitet?

Der Ruhm des Instituts beginnt 1930, als Sozialphilosoph Max Horkheimer die Institutsleitung übernimmt. Er bringt zahlreiche Wissenschaftler verschiedener Disziplinen zusammen: Philosoph Walter Benjamin, Psychoanalytiker Erich Fromm, Soziologe Siegfried Kracauer, Philosoph Herbert Marcuse, Soziologe Friedrich Pollock und Philosoph Theodor W. Adorno. Sie machen den engeren Kreis aus und werden als "Frankfurter Schule" bezeichnet.

1933 stürmt die Gestapo das Institut. Horkheimer emigriert nach New York und errichtet dort an der Columbia University eine Außenstelle des IfS. 1949 kehren die Forscher nach Frankfurt zurück, 1950 wird das Institut - als private Stiftung mit öffentlichen Mitteln - wiedererrichtet; Max Horkheimer und Theodor W. Adorno übernehmen die Institutsleitung.

Was genau ist die Frankfurter Schule?

Wie kann der Einzelne sich aus den Zwängen befreien, die die Freiheit mit sich bringt? Mit dieser Frage befasste sich ein Kreis von Wissenschaftlern, die am IfS an der Neuformulierung der marxistischen Ideologie arbeiteten. Dieser Kreis, Frankfurter Schule genannt, hat auf der Basis der so genannten "Kritischen Theorie" von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno ein politisch links orientiertes Gesellschaftssystem entworfen.

Das klingt nach einem Widerspruch: Freiheit schafft Zwang. Horkheimer und Adorno waren aber der Meinung, dass alles, was uns befreit, wieder neue Zwänge bringt. Die Frankfurter Schule nennt das "Dialektik". Der zweiten Generation gehörte unter anderem Jürgen Habermas, einer der weltweit bedeutendsten Philosophen der Gegenwart, an.

Die sogenannte "Neue Frankfurter Schule" wiederum ist eine Gruppe von Schriftstellern und Zeichnern, die 1979 das Satiremagazin "Titanic" gründete. Die Gruppe um Max Goldt, F.K. Waechter und Bernd Pfarr macht in ihrer Kulturkritik durchaus Anleihen bei der "Kritischen Theorie".

Blick in den Sitzungssaal des Instituts für Sozialforschung (IfS) mit seinem historischen Mobiliar und der Bibliothek mit Sekundärliteratur.

Und was genau besagt diese Kritische Theorie?

Die Kritische Theorie ist von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 1937 in ihrer Essaysammlung "Die Dialektik der Aufklärung" entworfen worden. "Kritisch" meint hier "gesellschaftskritisch" im Hinblick auf eine zentrale Frage: Was sind die Herrschafts- und Unterdrückungsmechanismen, die wir aufdecken müssen, damit sich Menschen in Gesellschaftssystemen emanzipieren können?

"Kritik" heißt für Horkheimer und Adorno, dass sie in einem ersten Schritt die gesellschaftlichen Verhältnisse analysieren, dann infrage stellen und schließlich entschleiern. Am Ende entwirft die Kritische Theorie also eine ganze neue Gesellschaft.

Sind wir 100 Jahre später jetzt diese neue Gesellschaft?

Nach 100 Jahren haben sich die wissenschaftlichen Themen des Instituts für Sozialforschung der Gegenwart angepasst: Heute geht es um Gender-Fragen, Digitalisierung, Migration und Wanderarbeit. Die zentralen "kritischen" Fragen geben noch immer die Denkrichtung vor. "Was passiert eigentlich gegenwärtig? In welche Richtung laufen gesellschaftliche Entwicklungen?", sagt Stephan Lessenich, der das IfS seit 2021 leitet.

Noch immer forsche man im Geist der Kritischen Theorie von Horkheimer und Adorno und versuche, ihr Leitmotiv zu verstehen, erklärt Lessenich. Gesellschaftsanalyse und Gesellschaftsentwürfe stünden nach wie vor nah beieinander. Das, was anstehe, sei die Zukunft zu entwerfen, sagt Stephan Lessenich.

Stephan Lessenich, Direktor des Instituts für Sozialforschung (IfS), steht im Treppenhaus des Instituts.
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Land Hessen erhöht Finanzierung

2021 hat das Land Hessen seine Mitfinanzierung um 250.000 Euro erhöht. Insgesamt fördert es das Institut nun mit knapp 900.000 Euro im Jahr. Gerade jetzt brauche es die "kritische Gesellschaftswissenschaft, die das bundesweit einzigartige IfS betreibt", begründete Wissenschaftsministerin Angela Dorn (Grüne). "Wir brauchen anspruchsvolles sozialwissenschaftliches, geisteswissenschaftliches, philosophisches Denken, das uns hilft, kritisch zu reflektieren."

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