Nahaufnahme eines gelb-lila-farbenen Wandgemäldes.

Zum offiziellen Programm gehören Abhängen und Protest, die Kunst kommt von Kollektiven statt von Branchen-Stars - die documenta 15 fordert zum Umdenken und Mitmachen auf. Besucher und Besucherinnen müssen sich auf ein Kunstabenteuer einlassen.

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Wer sind Ruangrupa und was haben sie vor?

Eine grüne Zeichnung auf einem roten Hintergrund
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Die documenta 15 startet am Samstag und bisher ist vor allem eins klar: Es wird anders, bunt und mehr Abenteuer als sonst. Das indonesische Kuratorenkollektiv Ruangrupa widersetzt sich nicht nur dem Kunstmarkt, sondern auch dem, was so manche von einer documenta erwarten. Die Besucherinnen und Besucher sind nicht nur für den Kunst-Konsum da, sie müssen sich mit der Welt auseinandersetzen - und mitmachen. Sie sind dazu bereit? Dann los:

Worum geht es? Lumbung

Als sie von der documenta eingeladen wurden, drehten Ruangrupa den Spieß um und luden wiederum die documenta ein, doch Teil der Ruangrupa-Reise zu werden. "Vor allem aber weigerten wir uns, uns von europäischen, institutionellen Agenden ausbeuten zu lassen", schreibt das Kuratorenkollektiv im offiziellen Handbuch zur documenta 15.

Stattdessen geht es bei dieser documenta darum, gemeinsam zu arbeiten, Verantwortung und Ressourcen solidarisch zu teilen - schon der Weg ist das Ziel und Teil der Kunst. Das zeigt auch der zentrale Begriff "lumbung": Er steht für eine indonesische Reisscheune, in der die Dorfgemeinschaft ihre überschüssige Ernte aufbewahrt und gemeinsam verwaltet. Schon im Vorfeld der documenta haben sich Künstler und Künstlerinnen untereinander vernetzt und ausgetauscht. So entstand auch spontane Zusammenarbeit. Ab dem 18. Juni kommen die Besucherinnen und Besucher dazu und werden Teil des Ganzen.

Mitglieder des Künstlerischen Teams und Ruangrupa vor dem ruruHaus, einem der Veranstaltungsorte der Documenta.

Ruangrupa hat erklärt, jenseits der Logik des Kunstmarktes arbeiten zu wollen. Bei anderen documentas waren Galeristen und Händler unterwegs, documenta-Kunst wurde teuer - all das will Ruangrupa nicht. Stattdessen wollen sie auch wirtschaftliche Fragen anders denken und am Gemeinwohl ausrichten.

Mit "lumbung Kios" entstehen zwei selbstorganisierte Kioske, in denen Kunst verkauft wird. Die Einnahmen werden wieder gemeinsam verwaltet und geteilt. Preise orientieren sich an den finanziellen Grundbedürfnissen der Kollektive und ihren Produktionskosten.

Was gibt es zu sehen? Überraschung!

Wer nach Kassel kommt, um sich zeitgenössische Gemälde in Museen und Skulpturen auf einer Wiese anzuschauen, wird enttäuscht nach Hause fahren. Was nicht heißt, dass es gar keine Bilder geben wird. Aber diesmal ist so ziemlich alles möglich. Es wird debattiert, getanzt, protestiert und 100 Tage lang geskatet. Und alles ist Kunst, alles ist politisch, vom Kochen bis zu den Partys.

Auch die Formen, die von den Künstler-Kollektiven gewählt werden, sind völlig unterschiedlich: Hamja Ahsan will ein Universum konkurrierender Frittierhähnchen-Imbisse aufbauen (Kaliphate Fried Chicken), in denen islamische Predigten laufen - ein ironischer Umgang mit Islamophobie im Westen.

Das Kollektiv Chimurenga dagegen hat eine neue Staffel seines Radioprogramms "Radio Freedom" aufgesetzt, das aus Tansania gestreamt wird. Cinema Caravan bringt ein mobiles Open-Air-Kino nach Kassel, auf der Fulda gibt es schwimmende Gärten zu sehen, daneben wird der Imperialismus mit Schnecken aufgezeigt. Und Graziela Kunsch macht aus Kinderbetreuung Kunst, dort sollen Erwachsene von Babys lernen.

Diese documenta wird außerdem permanent in Bewegung sein. Jederzeit kann etwas passieren, das es vorher noch nicht gab - und was danach womöglich auch nicht mehr passiert. Besucher und Besucherinnen werden keine Freude haben, wenn sie nur gucken und konsumieren wollen: Ruangrupa setzt auf Vernetzung, Teilhabe, Wissensvermittlung und mitmachen. Und dem werden sich auch die documenta-Gäste nicht entziehen können.

Wer macht hier Kunst? Kollektive statt Stars

Insgesamt über 50 Kollektive und Einzelpersonen sind von den Kuratoren eingeladen worden, auszustellen. Branchen-Stars, die sonst etwa auf der Venedig Biennale zu sehen sind, gibt es kaum. Die documenta-Kollektive bleiben aber nicht unter sich, sondern konnten andere Künstler dazu holen, mit denen sie bereits arbeiteten. So erweitert sich der Kreis immer mehr, es entstehen neue Beziehungen auch zwischen den Künstler-Kollektiven - all das ist ganz im Sinne der Kuratoren.

Ruangrupa sind die ersten Kuratoren in der Geschichte der documenta, die aus Asien kommen. Für die documenta bedeutet das eine Verschiebung der Perspektive: Viele der beteiligten Kollektive kommen aus dem globalen Süden und bringen ihre Erfahrungen und kulturellen Einflüsse mit.

Ein Thema, das der documenta viele Negativschlagzeilen einbrachte, bevor es überhaupt los ging, waren Antisemitismus-Vorwürfe. Einzelnen Künstlern wurde eine Nähe zur anti-israelischen Boykottbewegung BDS unterstellt, der Umgang der documenta mit dem Thema wurde kritisiert. Ruangrupa verteidigte sich gegen die Vorwürfe. Nun hoffen die Macher, dass zuerst die Kunst vor Ort bewertet und dann weiter diskutiert wird.

Welche Themen sind wichtig? Willkommen in der Gegenwart

Dass die documenta "so aktuell wie nie" ist, wird jedes Mal zur Eröffnung der Weltkunstschau erzählt. Und trotzdem sollte das dieses Jahr noch mal bemüht werden: Denn jegliche Debatten und Proteste der vergangene Jahre darüber, wie wir unsere Zukunft miteinander auf diesem Planeten gestalten wollen - und ob wir eine haben - finden sich auf der documenta.

Nur eine kleine Auswahl, zu was die Künstler und Künstlerinnen arbeiten: Nachhaltigkeit und Umwelt, Rassismus, Geschlecht, Diversität, Ressourcen und Verschwendung, Klimawandel, Kapitalismus, Widerstand und Protest, queeres Leben, Barrierefreiheit, die Rechte von Frauen und LGBTQ*, das Verhältnis von Lokal und Global, Imperialismus, Krieg und Flucht. Es geht immer wieder darum, bestehende Machtverhältnisse zu hinterfragen und alternative Formen des Wirtschaftens zu (er)finden.

Mitmachen: Meydan, Workshops, Rumhängen, Party

Diese documenta ist eine Aufforderung zum Mitmachen, zum Diskutieren und Rumhängen: Es gibt zahlreiche Workshops, an denen die Besucher teilnehmen können. Alle Termine finden sich im virtuellen Kalender. Es lohnt sich, vor dem Besuch in Kassel dort reinzuschauen. Man kann Flugdrachen basteln, die einem Meerestier ähneln sollen, auf Dachziegeln Musik machen oder beim Kollektiv Wakaliga Uganda lernen, wie man einen low-budget Film dreht. Dazu kommen Konzerte, Lesungen, Filmvorführungen und Protestaktionen.

Jedes zweite Wochenende finden sogenannte Meydans statt: Festivals, wo nach dem Wunsch von Ruangrupa "miteinander diskutiert, gestritten oder gefeiert" werden soll. Daran sind jeweils Initiativen aus dem Kasseler "Ekosistem" beteiligt, etwa das Kulturzentrum Schlachthof. Das letzte der drei Meydans im September soll der gemeinsamen Reflexion dienen, was die documenta für Erfahrungen gebracht hat - mit Workshops zu Nachhaltigkeit und wie man alternative künstlerische Einrichtungen aufbaut.

Auch für Partys ist reichlich gesorgt: Schon am Eröffnungswochenende werden alle Ausstellungsorte abends entsprechend genutzt. Das documenta-Kollektiv "Party office" kommt aus der queeren Szene, bei ihnen wird Party zur künstlerischen Praxis - dazu gehören auch BDSM-Partys für Fans von Schmerzen und Fesselspielen. Party Office will Räume schaffen, in denen sich alle wohl fühlen - ohne Transfeindlichkeit, Rassismus oder Sexismus. Zum Teil sind sie laut Ankündigung nur für QT2BIPoC (Queer, Trans, Two-Spirit, Black, Indigenous, People of Color) offen.

Weitere Informationen

Das offizielle documenta 15 Handbuch, Tickets und Kalender

Seit Montag ist das documenta Handbuch von Ruangrupa im Handel erhältlich. Auf über 300 Seiten geht es um die Ideen des indonesischen Kollektivs und die eingeladenen Künstlerinnen und Künstler. Das Buch kostet 25 Euro und ist auch auf Englisch erhältlich. Tickets für die documenta gibt es hier, den virtuellen Kalender mit allen Workshops und Veranstaltungen gibt es hier.

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Lohnt sich ein Besuch?

Wenn Sie es bis hierhin im Text geschafft haben, ohne das Interesse zu verlieren und offen sind für ein Kunstabenteuer: sicher. Wenn Sie nach diesen Zeilen Angst haben, auf einem alternativen Festival zu landen und Chaos generell meiden, sollten Sie es trotzdem versuchen. Es kann sein, dass Sie an einem der 32 Ausstellungsorte etwas finden, das Sie so nie wieder erleben werden.

Sie haben seit Jahren kein Museum von innen gesehen und witzeln gerne: "Ist das Kunst oder kann das weg?" Auch dann könnte es passen, denn die documenta 15 bietet Kunst außerhalb von sterilen Museumshallen. Langweilig wird es sicher auch nicht. Eine gewisse Weltoffenheit und Interesse am Planeten Erde und dem Wohl der Menschheit könnte aber nicht schaden, denn diese documenta will etwas verändern - und hat Großes vor.

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