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Kommentar: Mehr Sachlichkeit in Antisemitismus-Debatte um documenta15

Reste einer Papp-Installation hinter einem Bauzaun. Im Hintergrund unscharf der Eingang zur documenta-Halle und Besucher davor.

Die Debatte um Antisemitismus bei der documenta 15 wird immer hitziger und treibt merkwürdige Blüten. Die überdrehte Debatte müsste dringend beruhigt und versachlicht werden. Das fängt bei einer Definition des Begriffs Antisemitismus an.

Antisemitisch, antisemitischer, documenta 15. Darum scheint es in dieser Debatte vielen Politiker:innen und Journalist:innen zu gehen. So ist etwa von der "Antisemita 15" die Rede, einer angeblich komplett von antisemitischen Haltungen durchsetzten Kasseler Weltkunstschau.

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Portrait von Tanja Küchle. Daneben steht "Meinung".

Tanja Küchle, Kultur-Redakteurin

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Das ist natürlich völlig falsch, denn es gibt hunderte, vielleicht sogar mehr als tausend Beteiligte an dieser documenta, die weder mit dem Jüdischsein noch mit Israel an sich ein Problem haben. Die einfach Kunst machen – zu spannenden, vielfältigen Themen.

Ganz Kassel niederbrennen?

Doch die documenta-Gegner überschlagen sich mit lautem Gebrüll und Forderungen: Sie fordern die Zensur der Kunstwerke, die Absetzung der Verantwortlichen – insbesondere der documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann – und sie fordern neuerdings auch die Rückzahlung von wertvollen deutschen Steuergeldern, die in die Kasseler Weltkunstschau geflossen sind.

Die einzige Forderung, die bisher noch fehlt: "Ganz Kassel niederbrennen, damit angemessen Buße getan ist." Das schrieb treffsicher die Schriftstellerin Eva Menasse in ihrem Gastbeitrag für den Spiegel.

Zahlen und Fakten nicht wild interpretieren

Besser kann man, finde ich, die Ignoranz und Verschwörungswut vieler Journalisten:innen und Politiker:innen in diesem vermeintlichen Skandal nicht zusammenfassen. Damit sich aus dieser überdrehten Debatte überhaupt noch etwas Konstruktives ergeben kann, muss sie dringend beruhigt und versachlicht werden.

Müssen Journalist:innen, Politiker:innen und Kulturtätige mit sorgfältig geprüften Argumenten ins Detail gehen. Dürfen Zahlen und Fakten nicht weiterhin wild interpretiert werden – im Sinne des eigenen, so genannten "Framings" – also in eine Richtung, der eigenen Argumentation dienlich ist.

Boykott-Aufruf unterzeichnen = Antisemitismus

Nur ein aktuelles Beispiel: Gerade berichtete die Zeitung Welt, sie könne jetzt insgesamt 84 Teilnehmenden dieser documenta nachweisen, dass sie einen Aufruf zum Israel-Boykott unterschrieben hätten. Bisher sei von 20 documenta-Teilnehmer:innen bekannt gewesen, derartige Aufrufe zu unterstützen. Die Welt hatte dazu eine Liste von 2.276 Documenta-Beteiligten verglichen mit den Unterzeichnerlisten von sieben israelkritischen Briefen und Boykottaufrufen.

Daraus folgerte der Autor des "Welt"-Artikels "neue Ausmaße" des Antisemitismus-Skandals auf der documenta. Seine stark verkürzte Schlussfolgerung lautet also: Wer einen Boykott-Aufruf unterzeichnet, ist Antisemit bzw. Antisemitin.

Fragwürdige Definition von Antisemitismus

84 Teilnehmende von 2.276 ergeben eine Quote von 3,78 Prozent. Die liegt deutlich unter den konstant zehn bis 15 Prozent von Menschen mit antisemitischen Einstellungen in der deutschen Gesamtbevölkerung.

Abgesehen davon ist diese Behauptung auch schlichtweg falsch. Es krankt bereits an der Definition von "Antisemitismus", die für diesen Kurzschluss herangezogen wird. Sie stammt von der IHRA – der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken – und ist umstritten. Denn sie ist sehr weit gefasst und betrachtet auch Kritik am Staat Israel als potenziell antisemitisch. Es wäre also an der Zeit, im Zuge dieser Debatte auch zu hinterfragen, wie angemessen die Begriffe und Definitionen sind, auf Basis derer man sich gegenseitig beschuldigt.

Auch nicht hilfreich ist der regelmäßig vorgebrachte Verweis auf den Bundestagsbeschluss von 2019, der die anti-israelische Boykott-Bewegung BDS als antisemitisch einstuft. Auch dieser Bundestagsbeschluss, der ursprünglich auf die AfD zurückging, wird von einigen renommierten Experten aus Wissenschaft und Kultur kritisiert.

Auch documenta lässt Transparenz und Sachlichkeit vermissen

Schade, dass auch die documenta-Seite Transparenz und Sachlichkeit vermissen lässt. In ihrem Statement vom 12. Juli schreibt die Generaldirektorin der documenta, Sabine Schormann, es werde gerade unter der Federführung des "documenta archivs" ein externes Netzwerk aus wissenschaftlichen Berater:innen aufgebaut, das die Kunst genauer unter die Lupe nehmen soll. Nach der ersten Prüfung gebe es auf der documenta 15 keine strafrechtlich problematischen Kunstwerke.

Am Ende ihres Presse-Statements schreibt Schormann: Es gelte nun "mit vereinten Kräften die documenta fifteen erfolgreich zum Abschluss zu bringen: mit Fairness, Solidarität und Vertrauen, insbesondere zur Künstlerischen Leitung und den Künstler*innen."

Realitätsverzerrung und Ignoranz bestehen in dieser Debatte offenbar auf allen Seiten. Es ist höchste Zeit, dass in diese Debatte Sachlichkeit und Gelassenheit einkehrt. Noch ist es nicht zu spät.

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