Mai Thi Nguyen-Kim im Interview "Wissenschaft ist keine Glaskugel"

Wissenschaftliche Studien, Fachbegriffe, Zahlen - langweilig? Nicht, wenn Mai Thi Nguyen-Kim sie erklärt. Die Heppenheimerin ist Deutschlands erfolgreichste Wissenschaftsjournalistin. Im Interview erklärt sie, was Freiheit mit Klobrillen zu tun hat.
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1,3 Millionen Abonnentinnen und Abonnenten verfolgen Mai Thi Nguyen-Kim, wenn sie auf ihrem Youtube-Kanal mit einer Tasse Tee in der Hand über Wissenschaft spricht. Die gebürtige Heppenheimerin ist promovierte Chemikerin, Autorin und Fernsehmoderatorin - und die wohl gefragteste Wissenschaftsjournalistin Deutschlands.
Im vergangenen Jahr kam ein weiterer Titel hinzu: Corona-Expertin. Ihr Video "Corona geht gerade erst los" von April 2020 war das erfolgreichste deutsche Youtube-Video des Jahres. Bis heute wurde es über sechs Millionen mal angesehen. Im Interview mit Jagoda Marinić spricht Nguyen-Kim über den Druck, den das Vertrauen ihrer Zuschauerinnen und Zuschauer mit sich bringt und wie die Pandemie die gesellschaftliche Sicht auf Wissenschaft verändert hat.
hessenschau.de: Ihr Kanal "Mailab" hat 1,3 Millionen Abonnentinnen und Abonnenten. Die Zuschauer vertrauen Ihnen. Wie fühlt sich das an?
Mai Thi Nguyen-Kim: Das setzt einen unter Druck. Ich mache mir zunehmend einen Kopf, bevor ich irgendetwas von mir gebe, gerade wenn ich ein neues Video poste. Das war besonders wichtig, wenn es um Corona ging. Da darf natürlich kein Fehler drin sein oder Stellen, die man missverstehen könnte. Information hat einen großen Impact, das ist mir schon sehr bewusst. Aber natürlich freut mich das auch. Deswegen mache ich diese Arbeit: damit ich Menschen erreichen kann, damit ich Wissenschaft vermitteln kann.
hessenschau.de: Youtube war anfangs ein Hobby neben Ihrer Doktorarbeit. Jetzt sitzen Sie in Talkshows und möchten mithelfen, das Coronavirus zu verstehen, damit wir uns besser dagegen wappnen können. Dafür ernten Sie aber auch viel Hass. Was macht das mit Ihnen?
Nguyen-Kim: Die Aufmerksamkeit war grenzwertig. Ich war irgendwie froh, während der Pandemie meinen kleinen Teil beizutragen. Ich glaube, viele von uns haben sich einfach sehr machtlos gefühlt in dieser Situation. Und dann hatte ich wirklich das Gefühl, was zu machen. Da war ich schon dankbar und froh. Aber es ist natürlich für einen Menschen nicht ganz einfach, mit so viel Aufmerksamkeit umzugehen. Positiv wie negativ.

hessenschau.de: Man wird die ganze Zeit bewertet.
Nguyen-Kim: Ich glaube, dass die menschliche Psyche einfach nicht dafür gemacht ist, so viel soziales Feedback zu bekommen. Ich habe das Glück, ein Team um mich zu haben, das mich ein bisschen abschirmt, damit ich mich auf die Inhalte konzentrieren kann. Aber ich kann mir auch immer wieder sehr gut rationalisieren, dass wenn ich jetzt sowohl Lob als auch Hass abbekomme - beides hat nichts mit mir als Mensch zu tun. Denn ich spreche über wissenschaftliche Inhalte. Entweder findet man die gut oder man hat ein Problem damit. Dann hast du nicht ein Problem mit mir, du hast ein Problem mit den Dingen, die ich sage und das ist dein Problem. Das gelingt mir zunehmend besser.
hessenschau.de: Wie hat Sie das verändert?
Nguyen-Kim: Ich habe das Gefühl, ich bin daran gewachsen. Ich habe den Eindruck, dass mir jetzt noch egaler ist, was irgendwelche Menschen, die mich nicht kennen, an Unwahrheiten über mich verbreiten. Ich habe zum Glück meine Formate und meine Reichweite. Da kann ich ja das sagen, was ich sagen will. Und man kann sich selber anhören, ob das alles so stimmt oder nicht. Aber allgemein: Wir haben eine Diskussionsklima-Krise. Das finde ich wirklich sehr besorgniserregend.
hessenschau.de: Diese Krise ist letztlich der Kern Ihres Buches "Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit. Wahr, falsch, plausibel - Die größten Streitfragen wissenschaftlich geprüft".
Nguyen-Kim: Das Buch und der Titel standen schon vor Corona und ich bin fast froh, dass die Pandemie dazwischengekommen ist, weil ich glaube, ich hätte das Buch sonst viel naiver und letztendlich schlechter geschrieben. Während der Pandemie gab es ein Spotlight auf die Wissenschaft. Ein kleines, aber ganz grelles. Noch nie waren so viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Talkshows vertreten. Ich finde es schädlich, wenn man deshalb denkt, dass das, was man im Spotlight sieht, für die ganze Bühne steht.
Podcast
Mai Thi Nguyen-Kim – Diskussionsklimakrise
Manche haben das pauschale Fazit gezogen: Wissenschaft hat gar nichts mit Wahrheit zu tun, sondern hat nur den heutigen Stand, der sich morgen wieder ändern kann. An sich stimmt das auch. Es gibt eine kleinste gemeinsame Wirklichkeit, einen wissenschaftlichen Konsens, zumindest in den Naturwissenschaften oder in den evidenzbasierten Wissenschaften. Die Frage ist nur: Wie groß ist er?
Das ganze Interview als Podcast
Das Gespräch in voller Länge hören Sie im Podcast "Freiheit Deluxe" in der ARD Audiothek. Darin bespricht Jagoda Marinić mit Mai Thi Nguyen-Kim beispielsweise auch, warum soziale Netzwerke der Wissenschaftlerin mehr Sorge bereiten als die Klimakrise.
Ende der weiteren Informationenhessenschau.de: Medial gibt es dieses Bedürfnis nach einem diversen Diskurs, den wir in einer Demokratie gewohnt sind. Aber in der Wissenschaft funktioniert es ein bisschen anders. War das ein großer gesellschaftlicher Lernprozess für uns alle?
Nguyen-Kim: Wissenschaft ist keine Glaskugel, um in die Zukunft zu schauen. Sich zu irren, ist etwas ganz Natürliches in der Wissenschaft. Journalisten neigen dazu, eine Gegenposition einzuladen, weil das in anderen Bereichen, wenn es um Meinungen geht, journalistisch gut ist, um nicht einseitig zu sein. Aber es geht hier eben nicht um Meinungen, sondern um Evidenz. Und das kann man objektiv beurteilen. Wissenschaft und wissenschaftlicher Konsens sind keine Demokratie, weil nicht eine Mehrheit bestimmt, was die stärkste Evidenz ist. Es ist so, dass die stärkste Evidenz eine Mehrheit hinter sich versammelt.
hessenschau.de: Aber es gibt ein Wissenschaftsmisstrauen. Wie wichtig es ist, Akzeptanz zu ermöglichen, wenn man eingreift in unser Leben wie in der Pandemie?
Nguyen-Kim: Es ist nicht so, dass plötzlich alle Debatten im Keim erstickt werden, wenn wir uns auf die kleinste gemeinsame Möglichkeit einigen. Es ist gar nicht so viel, worüber man nicht mehr streiten muss. Für mich bedeutet Freiheit nicht, immer willkürlich zu machen, was ich will.
Nehmen wir mal ein Beispiel: In den USA gab es am Anfang der Pandemie eine Challenge, bei der junge Menschen Klodeckel abgeleckt und es dann bei TikTok hochgeladen haben. Da muss ich sagen: Freiheit ist nicht, random an Klobrillen zu lecken, wann immer ich will. Das ist Willkür. Freiheit ist, wenn ich weiß, was ich da auflecke. Wissenschaft sagt dir nicht, ob es richtig oder falsch ist, an Klobrillen zu lecken. Wissenschaft sagt nur, was du da aufleckst und dann musst du was du draus machen. Aber nur wenn man das weiß, kann man wirklich frei entscheiden, finde ich. Es wäre sehr schade, wenn wir uns da rückwärts bewegen und Wissenschaft als Freiheitseinschränkung wahrnehmen. In meinen Augen ist es genau das Gegenteil.

hessenschau.de: Wie ist die Welt, wenn man sie so angeht wie Sie? Gibt es Widerstreit zwischen Gefühl und rationalem Zugang?
Nguyen-Kim: Natürlich. Ich hatte das oft in der Pandemie, dass ich dachte: Ich möchte das gar nicht wahrhaben. Aber ich finde trotzdem immer Trost in Wissenschaft. Mit jeder Frage, die man beantwortet, tun sich mindestens drei neue auf. Man erklärt sich die Welt nicht weg, sondern ich finde, man macht sie immer wundervoller.
hessenschau.de: Hat das für Sie auch eine spirituelle Dimension? Dieses Nachdenken über die Welt und wie sie beschaffen ist, vielleicht ist es das Gegenteil von Nüchternheit.
Nguyen-Kim: Ich sage ganz gerne, dass Chemie der Schlüssel zu einer unsichtbaren Welt ist, weil alles aus Molekülen oder Atomen besteht. Wir kriegen aber gar nichts davon mit. Das ist wie ein Paralleluniversum. Die ganze Zeit passieren in mir, in Ihnen, hier im Raum, in der Luft überall Sachen. Aber nur weil sie für unser Auge nicht sichtbar sind, ignorieren wir sie. Das ist total schade, denn wenn man da reinschaut, sich darauf einlässt, dann wird einem eine ganz neue Welt eröffnet.
Ich glaube aber, jeder hat das. Ich bin davon überzeugt, dass der Mensch einfach ein neugieriges Wesen ist. Und irgendwie halte ich es für ein großes Missverständnis der Menschheit, dass Naturwissenschaften so unbeliebt sind.
Die Fragen stellte Jagoda Marinić.