Meron Mendel, Portrait.

Der Antisemitismus-Skandal hat die documenta 15 massiv überschattet: Meron Mendel von der Bildungsstätte Anne Frank wurde als Experte eingeschaltet. Im Interview nennt er die Kunstschau "außerordentlich gut", kritisiert aber die Kuratoren Ruangrupa.

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Mendel: "Antisemitische Sprache wurde relativiert"

Menschen stehen vor dem abgehängten umstrittenen Banner auf der documenta in Kassel  (AFP)
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Meron Mendel, Leiter der Frankfurter Anne Frank Bildungsstätte, hat sich früh in die Antisemitismus-Debatte um die documenta 15 eingeschaltet: Er wollte auf einem Podium sitzen, um als Experte über Antisemitismus und postkoloniale Positionen zu sprechen - das Podium wurde abgesagt. Er sollte der documenta 15 als Berater zur Seite stehen, als bereits das Bild der Künstlergruppe Taring Padi abgehängt wurde - und schmiss am Ende frustriert das Handtuch.

Trotzdem nahm Mendel die documenta 15 immer wieder in Schutz vor einem Antisemitismus-Generalverdacht. Am Sonntag endet die documenta 15 nun nach 100 Tagen. Im Interview spricht Mendel über Stochern im Nebel, Rassismus-Vorwürfe und wie es mit der angeschlagenen Weltkunstschau weitergehen könnte.

hessenschau.de: Die 100 Tage documenta sind fast vorbei, wie ist Ihr Fazit?

Meron Mendel: Ich kann von zwei Fazits sprechen: Zum einen hatten wir eine außerordentlich gute documenta mit sehr vielfältigen Kunstwerken aus der ganzen Welt und Stimmen, die zuvor gar nicht zu Wort kamen.

Auf der anderen Seite hatten wir einen Tabubruch was Antisemitismus angeht, antisemitische Bildsprache, die von einem Großteil des Kunst- und Kulturbetriebs als normal hingenommen und ständig relativiert wurde. Diese zwei documentas kommen für mich nicht zusammen.

hessenschau.de: Sie waren auch selbst involviert, eigentlich zum Vermitteln, haben sich dann aber zurückgezogen. Wie war diese Erfahrung?

Meron Mendel: Ich habe mich am Anfang aufgrund des Wunsches der damaligen Generaldirektorin Sabine Schormann sehr früh eingeschaltet. Ich habe versucht, die Fronten aufzuweichen und einen Dialog zu schaffen. Nach mehreren Versuchen war mir klar, dass das während die documenta noch läuft, nicht möglich ist. Mir war auch klar, dass auf der Seite von den Kuratoren von Ruangrupa eine Art Ideologie herrscht, die das einfach nicht zulässt.

Auf der einen Seite wird ständig von einem Dialog gesprochen und kolportiert, wir wollen etwas lernen - aber auf der anderen Seite hat man gemerkt, dass sie geblockt haben, wenn wir sie mit konkreten Teilen von Kunstwerken und Inhalten konfrontiert haben. Das zusammen zu bringen, war nicht mehr möglich.

hessenschau.de: Wie waren denn die Reaktionen des Kuratorenteams Ruangrupa in den Gesprächen?

Meron Mendel: Bei Ruangrupa gibt es sehr unterschiedliche Stimmen. Zum einen sind manche uninformiert, aber bei anderen gibt es eine klare Ideologie, die Israel für das ganze Unheil in der Welt verantwortlich macht. Das Problem ist, dass das nicht offen ausgesprochen wird.

Es wird sich immer hinter Kunstfreiheit versteckt oder so einer Art Pseudonaivität, dass man aus einem anderen Land kommt und nicht verstanden hat, wie das hier läuft. Mit dieser Strategie wurde über Wochen versucht, eine Auseinandersetzung mit antisemitischen Inhalten zu verhindern.

Ich muss sagen, dass ich mit Taring Padi bessere Erfahrungen hatte als mit Ruangrupa. Mit Taring Padi konnte man wirklich über die Sache reden. Bei Ruangrupa hatte ich das Gefühl, ich stochere in einem Nebel, sie wollen das vom Tisch haben.

hessenschau.de: Die Kunstschau galt als Schau des "globalen Südens", aber am Ende waren vor allem die Skandale in der Öffentlichkeit. Haben die eigentlichen documenta-Themen Schaden genommen?

Meron Mendel: Ich tue mich schwer mit dem Begriff "globaler Süden". Als ob die 1.500 Künstler in Kassel für die Hälfte der Erdkugel sprechen, aber das ist nicht der Fall. Und auch unter den 1.500 Künstlern reden wir nur bei einer sehr kleinen Minderheit von dezidiert Israel hassenden und teils antisemitischen Positionen. Der Großteil der Künstler wurde zu Unrecht in Mitleidenschaft gezogen.

Wenn sie sich über Zustände in Namibia, Kuba oder Nicaragua beklagen, müssen sie sich nicht zwangsläufig mit der Situation Israel und Palästina auseinandersetzen. Und das ist ein Teil des Problems in dieser allgegenwärtigen documenta-Debatte. Es werden alle hineingezogen, die dazu gar keine Position haben oder haben wollen. Eine kleine Minderheit bei den documenta-Machern hat den Ton bestimmt.

hessenschau: Was hätte rückblickend besser laufen müssen?

Meron Mendel: Es ist sehr schwer, so einen Dialog zu starten, wenn die documenta schon läuft, die Skandale schon da und die Gemüter aufgeheizt sind. Wir haben die Chance verpasst, vor der documenta zwischen Januar und Juni einen Dialog zu starten. Im Nachhinein verstehe ich auch, man hätte nicht den kleinen ideologisierten Teil der Künstler ansprechen müssen, sondern den Großteil derer, die mitgewirkt haben und keine festgefahrene Ideologie haben, was den Israel-Palästina-Konflikt angeht. Diese Chance wurde eindeutig verpasst.

Nach der Eröffnung standen wir vor einem Scherbenhaufen, es hatten sich schon alle zurückgezogen auf ihre Maximalposition, einerseits war die Forderung, 'alles muss weg'. Von der anderen Seite wurde jede Kritik sofort abgewertet und Kritiker als Rassisten dargestellt, zuletzt auch eine ganze wissenschaftliche Expertenkommission. Das finde ich problematisch. Wir müssen die Diskussion auch nach wissenschaftlichen Kriterien führen.

hessenschau.de: Und jetzt? Wie kann das bei einer kommenden documenta16 in fünf Jahren verhindert werden?

Meron Mendel: Die Kunstfreiheit ist ein sehr hohes Gut und gerade auf der documenta muss sie bewahrt werden. Es geht jetzt nicht darum, dass es für jedes Kunstwerk ein Beratungsgremium gibt. Eines muss klar sein: In Zukunft muss es eine oder mehrere Verantwortliche für die Kunstschau geben. Man braucht keine Expertenkommission, die vorab berät, sondern eine verantwortliche Person oder Gruppe, die auch auf die Qualität der Werke schaut.

Wir hatten das Problem, dass Ruangrupa gar nicht die Verantwortung übernehmen wollte. Die haben gesagt, sie hätten das in einer Art Lumbung-Prinzip weitergegeben und dann wurde die Verantwortung immer weiter delegiert an andere Kollektive, die es weiter an andere Kollektive gegeben haben. Am Ende des Tages hatten wir niemanden, der dafür gerade steht. Ein Problem, das im Normalfall gar nicht entstehen sollte.

Es geht nicht darum, dass es keine Kritik am Staat Israel geben darf. Im Gegenteil. Aber es geht darum, dass öffentlich finanzierte Ausstellungen eine Art Multiperspektivität darstellen müssen und nicht instrumentalisiert werden dürfen zu einer politischen Kampagne aus der einen oder anderen Richtung. Es bleibt ein bitterer Nachgeschmack und es wird eine weitere Aufarbeitung brauchen. Die documenta ist wandelbar und man wird aus der documenta15 für die documenta16 lernen.

ARD, Die Story im Ersten - der Documenta-Skandal

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