Die documenta hat eine Gesprächsreihe über Antisemitismus abgesagt. Meron Mendel von der Bildungsstätte Anne Frank war erst ein-, dann wieder ausgeladen. Er sagt im Interview, die documenta habe Fehler gemacht. Belege für Antisemitismus sieht er aber nicht.

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documenta sagt Diskussionsrunden über Antisemitismus ab

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Über die documenta15 wird öffentlich viel diskutiert, allerdings weniger über Kunst, mehr über Antisemitismusvorwürfe gegen beteiligte Künstler und Künstlerinnen, die der anti-israelischen Boykottbewegung BDS nahe stehen sollen. Die Kunstausstellung, die im Juni in Kassel beginnt, handelte sich so schon vor der Eröffnung reichlich Kritik ein.

Deswegen wurde kurzerhand ein mehrteiliges Diskussionsformat mit dem Titel "We need to talk" aufgesetzt - das am Mittwoch wieder abgesagt wurde. Es sollte um Antisemitismus, Rassismus und Islamophobie gehen.

Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, war zunächst eingeladen als Diskussionsteilnehmer und wurde dann wieder ausgeladen. Die Absage sei nicht die schlechteste Entscheidung, sagt er.

hessenschau.de: Sie hätten an einer Diskussionsrunde über den Umgang mit der Shoah und Antisemitismus in der postkolonialen Debatte teilgenommen - kein einfaches Thema. Die documenta hat jetzt alles abgesagt: Ist gar keine Diskussion eine Lösung?

Meron Mendel: Ich kann zu meinem Podium sagen, es war nur zwei Wochen Zeit und tatsächlich fand überhaupt keine inhaltliche Absprache mit den Referenten statt. Das hat mich schon gewundert, gerade bei solchen Themen, die kontrovers sind, die eine politische Brisanz haben.

Das muss gut vorbereitet sein, bevor man vor Publikum und online darüber spricht. Vor dem Hintergrund halte ich es für die richtige Entscheidung, die Diskussionsrunden abzusagen. Wenn man das Gefühl hat, dass die Atmosphäre nicht stimmt und die Absprachen mit den Referenten nicht abgeschlossen sind, ist es richtig, abzuwarten und das besser vorzubereiten.

Meron Mendel Portrait

hessenschau.de: Vom Präsident des Zentralrats der Juden kam die Kritik, dass die Diskussionsrunden nicht ausgewogen besetzt wurden - auch, dass der Zentralrat selbst nicht stark genug eingebunden wurde. Wie sehen Sie das?

Mendel: Ich bin nicht einverstanden mit dem Brief von Josef Schuster, aber in einem Punkt hat er Recht: Die Zusammensetzung der Expertinnen und Experten war nicht ausgewogen. Die Mehrheit war auf der Seite, die Israel stark kritisieren. Einige sind offen für die Positionen des BDS, gerade die israelischen Sprecher und Sprecherinnen.

Das hat für mich einen gewissen Beigeschmack, wenn man vor allem Israelis einlädt, die eine sehr kritische Position zu Israel haben. Das ist wie ein Kronzeuge oder Stellvertreter - man gibt die Rolle nicht an Deutsche, sondern die, die Israel am schärfsten kritisieren, sind selbst Israelis. Mein Wunsch wäre darauf zu achten, dass die Pluralität der Meinungen in der jüdischen Gemeinschaft auch in den Podien dargestellt wird. Die Palästinenser, die dort sprechen sollten, sind nicht dafür bekannt, dass sie die palästinensische Seite kritisieren.

hessenschau.de: Der Anstoß der ganzen Debatte war, dass Künstlerkollektiven Antisemitismus unterstellt wurde und die Nähe zur anti-israelischen Boykottbewegung BDS. Sehen Sie Antisemitismus bei documenta15-Künstlern?

Mendel: Soweit ich weiß, gibt es bislang keine Belege für Antisemitismus bei documenta-Künstlern. In der Diskussion über das Thema hätte die documenta aber die kritischen Stimmen einbeziehen müssen. Es war ein Versäumnis, dies nicht zu tun. Im Nachhinein wäre es besser gewesen, das erst mal ohne Öffentlichkeit zu diskutieren.

hessenschau.de: Hätte die documenta besser vorbereitet sein müssen auf solche Diskussionen? Es ist immerhin für alle Seiten ein sensibles Thema.

Mendel: Wir haben ein grundsätzliches Problem bei internationalen Kunst- und Kulturfestivals, wenn man Leute aus der ganzen Welt einlädt und noch den Anspruch erhebt, die Künstlerinnen und Künstler genau durchzuscannen und jeden und alle Äußerungen dieser Personen im Vorfeld zu checken.

Und auch die Kunst, die künstlerische Arbeiten zu prüfen - das bedeutet Ereignisse wie die documenta nicht machen zu können. Wir müssen hier eine gewisse Freiheit der Kunst zulassen.

hessenschau.de: Das heißt, Sie plädieren für mehr Toleranz für Menschen, die woanders in anderen politischen Realitäten aufgewachsen sind?

Mendel: Wir müssen verstehen, dass in Ländern gerade des globalen Südens und vor allem bei Palästinensern die Boykottbewegung einen ganz anderen Stellenwert und eine andere Bewertung hat als hier in Deutschland. Ich persönlich als Israeli bin gegen die Boykottbewegung. Ich denke, dass die Boykottbewegung nicht mal ein kleiner Beitrag für eine friedliche Lösung sein kann, sondern das Gegenteil.

Aber: Wenn Palästinenser, die in der Westbank oder in Gazastreifen leben, zu einem Boykott von Israel aufrufen, kann ich das nicht als Israeli und auch nicht als Deutscher verbieten. Und es wäre falsch, Menschen aus palästinensischen Gebieten hier auszuladen oder gar nicht einzuladen, weil sie der Boykottbewegung nahe stehen. Ich weiß, das ist eine sehr komplizierte Position, aber wir tun uns keinen Gefallen mit Vereinfachungen. Komplizierte Situationen brauchen komplizierte Antworten.

hessenschau.de: Was bedeutet das für die Kunst - aber auch für die Politik? Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) hat von Berlin aus schon mehrfach ins Geschehen eingegriffen.

Mendel: Wir können an die documenta nicht die Forderung stellen, dass sie alle Eingeladenen detailliert überprüfen. Wir müssen eine andere Haltung entwickeln: Was wird hier ausgestellt? Und wenn Arbeiten ausgestellt werden - egal wo -, die antisemitische Stereotype transportieren oder zur Vernichtung von Israel aufrufen, dann muss die Politik reagieren.

Aber bis das passiert, sollte die Politik sich zurückhalten und nicht nur auf Verdacht intervenieren. Für die documenta ist das aktuell eine sehr schwierige Situation.

Die Fragen stellte Sonja Süß.

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