Für den Kasseler Osten könnte die documenta 15 Aufschwung bringen: Das Kuratoren-Kollektiv Ruangrupa macht Industriegebäude und eine leerstehende Kirche zu Orten der Kunst. Vor Ort hofft man auf Investoren und eine langfristige Aufwertung der Gegend.

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Kasseler Osten im Fokus der documenta

Standort hinter dem Sandershaus mit Blick auf die leerstehende Haferkakao-Fabrik
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Kassel wird von der Fulda in zwei Teile getrennt: Ost und West. Es soll Einwohner im Westen geben, die bisher nur mit dem Auto über eine der Brücken in den Osten gefahren sind, um den Wagen in eine der zahlreichen Werkstätten zu bringen, oder den Autobahnanschluss zu erreichen. Bei der documenta 15 soll der im Osten gelegene Stadtteil Bettenhausen nun eine Hauptrolle spielen - sechs der insgesamt 32 Documenta-Orte liegen dort.

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Industrieruinen, Schrottplätze, Brachflächen

Gebrauchtwagenhändler reihen sich in Bettenhausen aneinander, daneben Schrottplätze, Brachflächen und leer stehende Industriehallen. Nur ein paar Straßenzüge weiter liegen weite Felder an der Fulda oder Wohnviertel, die wie beschauliche Dörfer wirken. Für die Pläne des indonesischen Kuratorenkollektivs Ruangrupa ist Bettenhausen ein Geschenk an Platz und Möglichkeiten.

Viele der eingeladenen Künstler und Künstlerinnen würden in ihrer künstlerischen Praxis ohnehin jenseits von Museumshallen und offiziellen Kulturorten arbeiten, begründete das Kuratoren-Kollektiv seine Entscheidung für den Osten. Seit Wochen wird aufgebaut, einige der Künstler wohnen auch in den Gebäuden, in denen sie ausstellen.

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Zwischen Graffiti und Ruinen: Die documenta erobert den Kasseler Osten

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Voodoo und Schädel: Wiederbelebung einer Kirche

Für manche Orte wird die documenta 15 zur Wiederbelebungsmaßnahme: Die katholische Kirche St. Kunigundis mitten in einer Wohnanlage, erbaut in den 1930er Jahren, wird seit 2019 nicht mehr für Gottesdienste genutzt, die Betondecke des denkmalgeschützten Gebäudes bröckelt. Nun soll sie für hundert Tage vom Kollektiv Atis Rezistans und der Ghetto Biennale aus Haiti bespielt werden.

Neue Themen für Pfarrer Martin Gies, er hat sich nach eigenen Angaben mit den Künstlern auch schon über die haitianische Voodoo-Religion unterhalten. Auch dass Atis Rezistans in ihrer künstlerischen Arbeit auch menschliche Überreste wie etwa Schädel nutzen, störe die katholische Gemeinde nicht, es müsse nur die Würde der Kirche gewahrt werden. Denn die Kirche ist nicht entweiht, sie hat noch einen Altar und eine Marienkapelle. Dort könnten documenta 15-Gäste auch eine Kerze anzünden, nachdem sie sich die Kunst angeschaut haben.

Es sei ein Glück gewesen, dass die documenta 15 die Kirche als Ausstellungsort wollte, sagt der Pfarrer. Es wurde ein neues Gutachten zur Statik der Decke gemacht und ein Sicherheitsnetz angebracht, das verhindern soll, dass den Besuchern und Künstlern Betonstücke auf den Kopf fallen. Gies hofft nun, dass der Ort auch nach der Kunstausstellung noch eine Zukunft hat.

Documenta 15 bringt Stadtentwicklung voran

Für den Kasseler Osten sei die documenta ein Glücksfall, findet auch Christof Nolda (Grüne), Dezernent für Stadtentwicklung. Es habe für die Kuratoren keine Vorgaben gegeben, den Schritt über die Fuldabrücken Richtung Osten sei Ruangrupa selbst gegangen: "Die Kunst sucht sich ihre Wege", sagt Nolda - und hofft auf neue Investoren. Die Stadt selbst treibt den Aufschwung im Osten mit Entwicklungsprojekten voran, die Wohnungsbau und Gewerbe ansiedeln sollen.

Die documenta 15 schaffe es aber, "besondere Räume anders zu bespielen, als man sie kennt", sagt Nolda - und das sei für Kassel so etwas wie ein "Kollateralerfolg". Die documenta 15 blase Wind in die Segel eines schon fahrenden Schiffes. "Wir hoffen, dass dieser Schub die Entwicklung vorantreibt".

Erst documenta-Ort, dann Wohnungen am Hafen

Einer der documenta-Standorte ist in einer ehemaligen Spedition in der Hafenstraße untergebracht. Gegenüber liegt der Schotterplatz des örtlichen Boules-Clubs, ein paar Meter entfernt der Yachthafen von Kassel - ein hoher Zaun riegelt das Gelände ab.

Ein Zugang zum Hafen und zum Fluss sei nicht nur ein Wunsch der Bevölkerung, sondern auch ein Stadtplaner-Traum, sagt Petra Gerhold, bei der Stadt Kassel zuständig für die Entwicklung des Hafenviertels. Allerdings gebe es Hürden: Das Ufer sei im Privatbesitz, es gelte Landschafts- und Hochwasserschutz. Für sie als Stadtplanerin seien das "dicke Bretter". "Es ist nicht unmöglich, aber viel Arbeit". So sei die ehemalige Spedition, in der nun documenta-Kunst gezeigt wird, mittlerweile an einen Bremer Investor verkauft worden. Wenn die Kunst wieder ausgezogen ist, sollen dort Wohnungen gebaut werden.

Urbaner Parcour zu Kasseler Geschichten

Mazen Nouraldin präsentiert sein syrisches documenta-Gericht

Ziel des Kuratoren-Kollektivs Ruangrupa ist es nach eigenen Angaben, Verbindungen schaffen zwischen dem, was es in der Stadt schon gibt, der Kunst und den Gästen, die mit der documenta 15 kommen. Das Projekt "eine Landschaft" des Künstlers Markus Ambach etwa soll das in einem "urbanen Parcour" schaffen: Eine Linie auf der Straße führt Besucher im Kasseler Osten zu Orten, die die Arbeit von Kasseler Initiativen und die Geschichten der Menschen zeigen.

Eine der Stationen ist der Imbiss"Al Wali". Der Betreiber Mazen Nouraldin hat extra für die documenta 15 ein Gericht mit Geschichte auf der Speisekarte: Za'atar, eine Gewürzmischung in einem getoasteten Teigfladen mit verschiedenen Soßen. Als er Kind war, habe seine Mutter ihm Za'atar in die Schule mitgegeben, das helfe beim Lernen und halte den Kopf gesund, habe sie immer gepredigt.

Nouraldin flüchtete mit Frau und Kindern vor acht Jahren nach Kassel vor den Bomben in Syrien, die sein Restaurant zerstörten. Wenn die documenta 15-Besucherströme weg sind, soll zumindest bei ihm ein Aufschwung kommen, hofft er: Er wolle sein erstes Restaurant eröffnen mit einem großen Grill - wie das, was er in Syrien verloren habe.

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Was gibt es wo zu sehen im Kasseler Osten?

  • Die Kirche St Kunigundis: Atis Rezistans/ Ghetto Biennale aus Haiti machen Mixed-Media-Skulpturen.
  • Das ehemalige Speditionsgebäude Hafenstraße 76: Das Berliner Kollektiv Fehras Publishing Practices arbeitet an einem fiktiven Fotoroman über drei Frauen zur Zeit des Kalten Krieges. Marwa Arsenios aus Beirut ziegt eine Installation und einen Film zum Thema Landrechte. Nino Bulling aus Berlin zeigt Siebdrucke, die den Klimawandel aus gender-fluider Perspektive zeigen. Das Netzwerk Comoposting Knowledge arbeitet zu Wissensproduktion, Camp notes on education entwickelt Arbeitsmethoden zur Vermittlung von Kunst und Kultureller Bildung
  • Hallenbad Ost: Das indonesische Kollektiv Taring Padi nutzt das ehemalige Schwimmbad und zeigt eine Retrospektive auf 22 Jahre Protest-Kunst und Klassenkampf mit großformatigen Holzschnittplakaten und Pappmaché-Puppen.
  • Sandershaus/ Haferkakaofabrik: Das Sandershaus ist das erste Kasseler Hostel und betreibt eine Unterkunft für Geflüchtete. Im Außenbereich wird Serigrafistas queer einen Versammlungsort einrichten und ein Archiv über ihre Arbeit in queeren und feministischen Protesten in Argentinien zeigen. Sa Sa Art Projects aus Kambodscha und Trampoline House aus Dänemark arbeiten mit Geflüchteten und wollen das in Kassel weiterführen.
  • Platz der Deutschen Einheit: In der Unterführung unter dem mehrspurigen Kreisel machen Trampoline House eine Soundinstallation.
  • Ehemaliges Hübner Werkgelände: BOLOHO aus China drehen und streamen eine Sitcom in der Cafeteria, Amol K Patil aus Indien schaffen eine Instalation mit Skate-Performances und Hologrammen, Jatiwangi art Factory zeigt eine Dachziegel- und Steininstallation, außerdem soll es Musik, Veranstaltungen und Kaffeeverkostungen geben. Foundation Festival sur le Niger aus Mali machen Festival-Kunst mit Prozessionen, Konzerten und Theater.
  • Bootsverleih Ahoi: Der Bootsverleih Ahoi liegt am Ostufer der Fulda in der beliebten Unterneustadt - die ein Kontrastprogramm zum Stadtteil Bettenhausen mit den anderen östlichen Standorten der documenta ist. Hier baut das Kollektiv OFF-Biennale Budapest zusammen mit Kitakindern aus Kassel eine Brücke. Die Künstlerin Chang En-Man erzählt eine Geschichte über Imperialismus, Migration und die indigene Bevölkerung Taiwans - anhand von Schnecken. Außerdem gibt es hier "Floating Gardens" der Künstlerin Ilona Néméth.
  • Tipp: Die Wege zwischen den Ausstellungsorten im Westen und im Osten sind zu Fuß recht weit - es lohnt sich, für eine Tour in den Osten ein Leihfahrrad oder einen Elektroroller zu nutzen. Karte: Alle documenta 15-Orte.
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