Der Angeklagte zeigt zu Prozessbeginn in Frankfurt seine Mittelfinger.

In Frankfurt hat der Prozess um die Drohschreiben des sogenannten "NSU 2.0" begonnen. Die Anklageschrift umfasst nicht weniger als 85 Punkte. Der mutmaßliche Verfasser machte gleich zu Beginn deutlich, wie wenig er von dem Verfahren hält.

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NSU 2.0: Prozess um Drohschreiben startet in Frankfurt

hs
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Seine Botschaft wird Alexander Horst M. los, noch bevor auch nur ein Wort im Gerichtssaal gefallen ist. Den Fotografen, die sich an diesem Mittwoch vor der Anklage drängen, präsentiert sich der Angeklagte im "NSU 2.0"-Prozess mit überkreuzten Armen und ausgestreckten Mittelfingern.

Der 54-Jährige muss nicht sprechen, um zu verdeutlichen, dass er dem Prozess vor dem Frankfurter Landgericht und der damit einhergehenden Öffentlichkeit ablehnend gegenübersteht. Er hat offenkundig nur eine Botschaft: Verachtung.

Drohbriefe an 24 Betroffene

Verachtung, oder besser gesagt blindwütiger Hass soll auch die Triebfeder hinter den Taten gewesen sein, die ihm die Anklage vorwirft. Zwischen August 2018 und März 2021 soll der arbeitslose IT-Techniker unter dem Pseudonym "NSU 2.0" nicht weniger als 116 Drohschreiben per Mail, Fax oder SMS an insgesamt 24 Geschädigte verschickt haben.

Das Kürzel NSU nimmt offenkundig Bezug auf die rechtsextremistische Zelle Nationalsozialistischer Untergrund.

Bei den Adressaten handelte es sich um Entertainer wie den ZDF-Satiriker Jan Böhmermann, Politikerinnen wie die Parteivorsitzende der Linken, Janine Wissler und allen voran die Frankfurter Rechtsanwätin Seda Basay-Yildiz.

Basay-Yildiz machte Ende 2019 die Drohungen öffentlich, die sich nicht nur gegen sie selbst, sondern auch gegen ihre Familie insbesondere ihre minderjährige Tochter richteten, deren Tod der Verfasser besonders grausam ausmalte.

Dass der Fall öffentliches Aufsehen erregte, lag derweil weniger an den in den Botschaften geschilderten Gewaltfantasien als an einem brisanten Detail: der anonyme Schreiber hatte offenkundig Zugriff auf nicht-öffentliche Daten seiner Opfer.

Kurze Zeit später stellte sich heraus, dass die Daten von Basay-Yildiz und anderen Betroffenen ohne Anlass von Polizeicomputern abgefragt worden waren. Lange wurde über mögliche rechte Netzwerke in Polizeibehörden spekuliert.

Inzwischen ist die Staatsanwaltschaft überzeugt, dass Alexander Horst M. sich die Daten erschlichen hat, indem er sich telefonisch gegenüber Polizisten als Behördenmitarbeiter ausgab. Beweise für diese These fehlen jedoch bislang.

Polizisten mit Schreckschusspistole bedroht

M. wurde schließlich nach umfangreichen Ermittlungen im Mai 2021 an seinem Wohnort in Berlin festgenommen. Die Anklage gegen ihn umfasst insgesamt 85 Punkte, die sich aus noch deutlich mehr Einzeltaten zusammensetzen - die allerdings teilweise tateinheitlich begangen wurden. Dies wirft ihm die Staatsanwaltschaft unter anderem vor:

  • 67 Fälle von Beleidigung
  • 11 Fälle von Nötigung
  • 23 Fälle von Bedrohung
  • 4 Fälle der Verunglimpfung des Andenkens eines Verstorbenen
  • 41 Fälle von Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Symbole

Hinzu kommen der Vorwurf der Volksverhetzung, öffentliche Aufforderung zu Straftaten, Besitz kinder- und jugendpornographischer Bilder und Videos sowie Widerstand gegen Amtsträger und ein Verstoß gegen das Waffengesetz. Bei seiner Festnahme soll Alexander Horst M. die Polizeibeamten, die seine Wohnung stürmten, mit einer Schreckschusspistole bedroht haben.

Gewaltfantasien mit pornographischen Zügen

Die Verlesung der umfangreichen Anklageschrift nahm den gesamten ersten Prozesstag ein. Insgesamt rund drei Stunden. Der größte Teil davon entfiel auf die umfangreichen Hassbotschaften, die Alexander Horst M. zugeschrieben werden. Dazu zählen neben den Drohungen gegen Basay-Yildiz und andere Betroffene auch Bombendrohungen gegen Gerichte und Schulen.

In fast allen Schreiben versucht der mutmaßliche Verfasser den Eindruck zu erwecken, dass er als "Führer" einer Untergrundorganisation agiere, die unter anderem auch für den Mordanschlag auf den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke verantwortlich sei.

Kennzeichnend ist eine Sprache, die durchsetzt ist von vulgärsten, häufig sexualisierten Beleidigungen. Die angedrohten Mordfantasien, die sich auffällig oft und besonders grausam an den Kindern der Betroffenen festmachen, haben beinahe pornographische Züge. Eine brutale Sprache, die vor Blut, Exkrementen und anderen Ausscheidungen nur so strotzt.

Vervollständigt wird das Bild durch zahlreiche Anleihen bei der NS-Sprache - etwa wenn der Verfasser den Adressaten der Schreiben eine "Sonderbehandlung" ankündigt, ehe er zum Abschluss die Waffen-SS hochleben lässt.

Hoch motiviert sich zu äußern

Alexander M. bestreitet die Vorwürfe. Auf der Anklagebank nimmt an diesem Mittwoch ein Mann Platz, der im normalen Leben nicht auffallen würde. Eine kleine Person, mit kurzen Haaren, die auf dem Weg zum endgültigen Ergrauen die Farbe von Asphalt angenommen haben. Kleine Augen hinter einer Brille mit dickem Gestell. In der Funktionsjacke, die er zum Prozessauftakt trägt, erinnert M. an einen Postboten - von dem man allerdings lieber keine Briefe erhalten möchte.

M. sagt an diesem Prozesstag nicht viel. Wenn er es doch tut, dann ist ihm die Wut, die in ihm kocht, deutlich anzumerken. Als er zu Beginn der Verhandlung nach seinen persönlichen Daten gefragt wird, verweigert er die Aussage. Auf die Frage nach dem Grund, fährt er die Vorsitzende Richterin an: "Weil das die Presse nichts angeht".

Als die Anklageschrift schließlich verlesen ist, muss ihn sein eigener Anwalt davon abhalten, umgehend darauf zu antworten. "Ich bin jetzt hoch motiviert, mich zu der Sache zu äußern", lässt er die Öffentlichkeit im Gerichtssaal wissen.

Er wird sich noch einen Tag gedulden müssen. Seine Einlassung ist erst für Donnerstag vorgesehen.

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