Corona-Beschleuniger oder Bremse? Wissenschaftler streiten über Weihnachtsmärkte

Während die Weihnachtsmärkte in den Städten nach und nach öffnen, entscheiden sich immer mehr kleine Gemeinden für eine Absage. Der Virologe Martin Stürmer hält das für richtig, Aerosolforscher Gerhard Scheuch widerspricht.
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Alle Weihnachtsmärkte im Werra-Meißner-Kreis abgesagt

Extra breite Gänge, eine Reduzierung von gut 200 auf 170 Buden, dazu Maskenpflicht sowie 2G an den Glühweinständen und auf einer zusätzlichen Fläche am Roßmarkt: Am Frankfurter Weihnachtsmarkt geht die Corona-Pandemie nicht spurlos vorüber.
Das schlage sich auch in den Besucherzahlen nieder, sagt Veranstalterin Ines Philipp von der Tourismus + Congress GmbH. Im Vergleich zu 2019 seien es nur halb so viele Besucher - es fehlten etwa Pendler, die jetzt im Homeoffice arbeiten, Busreisegruppen und Touristen aus dem Ausland. Auch dadurch sei es bisher "an keiner Stelle besorgniserregend eng" gewesen, lautet ihr vorläufiges Fazit.
Tabula rasa in Werra-Meißner
Anders sieht das der Bürgermeister von Berkatal, Friedel Lenze (SPD): "Wenn wir realistisch sind, wissen wir doch, dass die 1,5 Meter Abstand auf einem Weihnachtsmarkt nicht eingehalten werden", sagt er - gerade wenn Alkohol im Spiel sei.
Zusammen mit den 15 anderen Bürgermeistern aus dem Werra-Meißner-Kreis habe er deshalb beschlossen, dass es in diesem Jahr keinen einzigen Weihnachtsmarkt im Kreis geben soll. Binnen zwölf Tagen hätten sich die Infektionszahlen im Kreis verdoppelt, sagt Lenze. "Dann streichen wir doch lieber die Weihnachtsmärkte, als wieder in einen Lockdown zu gehen." Auch alle privaten Veranstalter seien dem Aufruf der Bürgermeister gefolgt. Ein "Aufschrei" unter Bewohnern und Schaustellern sei ausgeblieben.
Warum gehen die Meinungen auseinander?
Nicht nur in den Städten und Gemeinden, sondern auch in der Wissenschaft gehen die Meinungen über die Weihnachtsmärkte auseinander. Eine Komplett-Absage wie im Werra-Meißner Kreis sei aus virologischer Sicht die unkomplizierteste Lösung, um Infektionen zu vermeiden, sagt etwa Martin Stürmer.
Dem Virologen aus Frankfurt widerspricht Gerhard Scheuch: "Alles, was im Freien stattfindet, ist gut für uns" - und die Märkte pauschal zu schließen ergebe keinen Sinn, meint der Aerosolphysiker aus Gemünden (Wohra). Doch wie kommt es, dass nach bald zwei Jahren Pandemie solche Uneinigkeit über die Ansteckungsgefahr herrscht?
Einig sind sich Virologen und Aerosolforscher jedenfalls darin, dass das Coronavirus vorwiegend durch Aerosole in der Luft übertragen wird. Das passiert zum Beispiel beim Husten und Niesen, aber auch schon beim Sprechen und Atmen. Drinnen sei die Übertragungsgefahr mindestens 20-mal höher als draußen, argumentiert Aerosolforscher Scheuch. Er verweist auf eine Untersuchung aus Irland, laut der von rund 230.000 Ansteckungen nur 232 im Freien passierten.
Aerosolforscher: "Risiko Glühweinstand in Kauf nehmen"
Grundsätzlich sei das Risiko für eine Ansteckung im Freien deutlich geringer als drinnen, sagt auch Virologe Stürmer. Gefährlich werde es allerdings überall dort, wo sich viele Menschen über einen längeren Zeitraum auf engem Raum aufhalten - also zum Beispiel in der Schlange vor dem 2G-Bereich oder am Glühweinstand. "Wenn fünf glühweinselige Kollegen laut lachend beisammen stehen und einer von ihnen infiziert ist, kann er das Virus leicht übertragen", sagt Stürmer. Wie riskant der Weihnachtsmarktbesuch sei, hänge von der Menge der Leute ab. "Überall, wo man länger Kontakt hat, gibt es genug Potenzial, sich auch im Freien anzustecken", warnt Stürmer.
Aerosolforscher Scheuch schlägt eine andere Rechnung vor: "99 Prozent der Übertragungen finden drinnen statt", sagt er. "Also habe ich statistisch einen von 24 gerettet, wenn sich alle eine Stunde am Tag draußen aufhalten." Natürlich lasse sich nicht ausschließen, dass es zu einer Infektion am Glühweinstand kommt, sagt auch Scheuch. Dabei gehe es aber stets um einzelne Fälle, nicht um größere Cluster. "Ich denke, dieses Risiko können wir in Kauf nehmen."
Anreise oft gefährlicher als der Weihnachtsmarkt selbst
Scheuch weist aber auf ein anderes Problem hin: Wenn sich immer mehr kleine Gemeinden wie im Werra-Meißner-Kreis dazu entschließen, ihre Weihnachtsmärkte ganz abzusagen, würden die wenigen verbliebenen Märkte in Städten wie Kassel, Frankfurt oder Wiesbaden zu "Magneten" für die Menschen aus dem Umland.
Das sei auch deswegen bedenklich, weil die Anreise mit Bus und Bahn eine zusätzliche Ansteckungsgefahr berge, meint Scheuch. "Der Weihnachtsmarkt selbst ist nicht die Gefahr, aber die Menschen müssen ja irgendwie hinkommen." Dass laut der britischen Statistikbehörde besonders viele Busfahrer an Covid-19 starben, sagt Scheuch, weise darauf hin, dass das Bus- und Bahnfahren leider nicht so sicher sei wie gedacht.
"Ich kann mich in den Weihnachtsmarkt nicht reinbeamen", sagt auch Virologe Stürmer. Auf dem Weihnachtsmarkt gebe es immer wieder Situationen, in denen es eng werde, etwa am Einlass. In der Summe sehe er Weihnachtsmärkte deshalb kritischer als Aerosolforscher Scheuch.
Bürgermeister Friedel Lenze hätte sich auch angesichts der unterschiedlichen Einschätzungen mehr Klarheit von Bund und Land gewünscht. Während die geplanten Eröffnungstermine in vielen Gemeinden näherrückten, fiel die Entscheidung der Landesregierung nur zögerlich: Erst am vergangenen Freitag verkündete sie, dass die Weihnachtsmärkte grundsätzlich stattfinden dürfen - die Regeln müssen die Kommunen allerdings selbst festlegen.