Nahaufnahme einer Demonstration. Viele Schilder mit den Portaits der Getöteten und in der Mitte eine Hand mit einem Schild, auf dem steht: "Rassismus tötet!".

Beim rassistischen Anschlag von Hanau hat es offenbar weitere Einsatzpannen der Polizei gegeben. Ein neues Gutachten der Forschungsagentur Forensic Architecture zeigt: Die Polizei hat das Haus des Attentäters in den Stunden nach dem Anschlag nicht richtig bewacht.

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Gutachten zu Hanau-Anschlag

hs
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Es sind beeindruckende Bilder – die Aufzeichnungen eines Polizeihubschraubers. Sie zeigen den Hanauer Stadtteil Kesselstadt in der Nacht des Anschlags von oben: den Tatort am Kurt-Schumacher-Platz, reges Treiben vor der "Arena-Bar", in der wenige Minuten zuvor tödliche Schüsse fielen, und die Nachbarschaft des Hauses des Attentäters.

Die Aufzeichnungen zeigen: Beim Einsatz der Polizei in der Tatnacht hat es weitere Pannen gegeben. "Die Polizei hat in der Tatnacht versagt", sagt Bob Trafford, Projektleiter der Forschungsagentur Forensic Architecture. Die Rechercheure haben die Bilder ausgewertet und sich nach eigenen Angaben durch tausende Seiten Ermittlungsakten gearbeitet.

Rekonstruierter Blick eines Polizeihubschraubers von oben in der Dunkelheit.

Bei dem Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020 ermorderte der 43-jährige Hanauer Tobias R. aus rassistischen Motiven neun Hanauer Bürger mit Migrationshintergrund. Anschließend erschoss der Attentäter seine Mutter und sich selbst in seinem Elternhaus.

Haus des Attentäters war nicht richtig bewacht

In ihrem Gutachten zeigt Forensic Architecture, dass die Polizei das Haus des Attentäters nach dessen Tat über einen längeren Zeitraum nicht oder nicht richtig bewacht hat - obwohl klar war, wer er war und wo er sich aufhielt. Durch die mangelnde Bewachung hätte der Attentäter fliehen und weitermorden können.

Demnach waren drei Polizei-Einheiten damit beauftragt, das Haus beziehungsweise einen Fluchtweg zu sichern. Doch die Einheiten waren teils falsch positioniert oder haben ihren Standpunkt verlassen. Laut Gutachten hätte der Attentäter zwischen 23.21 Uhr und 0.25 Uhr, also mehr als eine Stunde lang, das Haus unbemerkt verlassen können. Demnach hatte in dieser Zeit kein einziger Beamter weder die Vordertür des Hauses noch die Hintertür im Garten im Auge. 

Piloten wussten offenbar Adresse des Attentäters nicht

"Jeder Bürger und jede Bürgerin in Hessen und in Deutschland sollten von diesem nachlässigen Umgang mit einem gewalttätigen Extremisten schockiert sein", kritisiert Trafford. "Sie haben es nicht geschafft, wichtigste Informationen zum Einsatz und der Ermittlung intern weiterzugeben." Auch das belegen die Aufzeichnungen des Polizeihubschraubers: Die Polizei hat offenbar teilweise nicht richtig miteinander kommuniziert.

So haben die beiden Piloten nie die Adresse des Attentäters erfahren. Der Heli kreiste über dem Stadtteil Kesselstadt, ohne gezielt das Haus des Attentäters zu erfassen – obwohl die Piloten mehrfach danach fragten.

"Wir sind abgehängt", stellte einer der Polizisten fest und fasste zusammen: "Wir haben da unten nichts gesehen, es redet kein Mensch mehr mit uns. Das mit dem Funk funktioniert überhaupt nicht!" Und so kamen die beiden zu einem deutlichen Fazit: "Das Ding ist eine komplette Katastrophe." Sein Kollege: "Ja, totaler Müll!"

Gutachten: SEK hätte früher eingreifen müssen

Hinterbliebene des Anschlags erheben seit Monaten Vorwürfe am Einsatz der Polizei, fragen sich, warum das angeforderte Spezialeinsatzkommando (SEK) stundenlang wartete, bis es eingriff und ins Haus des Attentäters ging. Das Gutachten kommt zu dem Schluss, dass das SEK deutlich früher hätte eingreifen müssen. Dieses hatte das Haus erst gegen drei Uhr morgens gestürmt.

So hätten die Beamten die Schüsse, mit denen der Attentäter zunächst seine Mutter und anschließend sich selbst tötete, hören müssen. Das geht aus einem Schallexperiment hervor. Die Beamten des SEK haben nach ihrem Einsatz zu Protokoll gegeben, sie hätten keine Schüsse vernommen. Eine Schutzbehauptung, schließen die Forscher von Forensic Architecture: Laut Schallexperiment waren die Schüsse mit rund 100 Dezibel rund um das Haus deutlich zu hören.

Das zuständige Polizeipräsidium Südosthessen erklärte am Donnerstag zum Einsatz am Täter-Wohnhaus, man habe in jener Nacht zunächst eine kommunikative Lösung angestrebt und parallel einen Zugriff durch ein Spezialeinsatzkommando vorbereitet. "Das Vorgehen im Haus wurde unter größtmöglicher Sicherheit kontrolliert durchgeführt. Die Örtlichkeit war entsprechend von außen gesichert. Ein schnelles und somit stark risikobehaftetes Vorgehen war nach Bewertung der Gesamtumstände nicht geboten."

Zwei Opfer hätten möglicherweise überleben können

Das neue Gutachten der Forensiker ist Teil der Ausstellung "Three doors". Darin zeigt Forsensic Architecture weitere Punkte rund um den Anschlag auf: So geht es auch um die möglicherweise verschlossene Notausgangstür am Tatort Arena Bar. Die Staatsanwaltschaft Hanau hatte entsprechende Ermittlungen eingestellt, unter anderem mit dem Hinweis, es sei nicht klar, ob die Opfer es überhaupt bis zu dieser Tür geschafft hätten.

In einem Gutachten, das Angehörige im Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag präsentierten, kommt Forensic Architecture zum Schluss: Sie hätten es zum Teil schaffen können. Zwei der Opfer hätten demnach überleben können.

Die Ausstellung, die sich auch mit dem Fall Oury Jalloh befasst, wird heute im Frankfurter Kunstverein eröffnet. Dessen Direktorin Franziska Nori erklärt, warum die Forschungsagentur neue Erkenntnisse gewinnen konnte: "Wir leben in einer bildbasierten Gesellschaft", sagt Nori, "das Lesen von Bildern ist immer zentraler geworden." Forensic Architecture besitze die Fähigkeiten, "bildwissenschaftlich zu untersuchen" - unterschiedliches Material aus unterschiedlichen Quellen. "Sie deuten dieses Material, rekonstruieren es, analysieren es und beziehen daraus neue Informationen und Wissen."

Auch im Fall des vom NSU ermordeten Kasselers Halit Yozgat hatte Forensic Architecture neue Erkenntnisse präsentiert: Auf der letzten documenta bauten die Forscher für ihre Aufarbeitung der Ereignisse das Internetcafé Yozgats komplett nach - und zeigten mit einem Digitalmodell, dass der hessische Ex-Verfassungsschützer Andreas Temme den Mord an Yozgat mitbekommen haben muss. Anders, als von den Ermittlungsbehörden zuvor behauptet.

Notruf nicht erreichbar

Bezüglich des Anschlags von Hanau hatten im vergangenen Jahr Recherchen des hr, des ARD-Magazins Monitor und des Spiegel ergeben, dass der Notruf der Polizei in der Tatnacht am 19. Februar 2020 unterbesetzt war. Anrufprotokolle belegten, dass der 22-jährige Vili-Viorel Păun mehrfach versucht hatte, die Polizei zu alarmieren, diese jedoch nicht erreichte. Păun war schließlich vom Attentäter erschossen worden.

Wie die Recherchen zeigten, waren auf der Polizeiwache in der Innenstadt nur zwei Leitungen für Notrufe freigeschaltet - und offenbar nur ein Beamter vor Ort, um Notrufe anzunehmen.

Linke und SPD kritisieren Einsatz-Versagen

Kritik kommt am Donnerstagmorgen auch von der Linken im hessischen Landtag: "Was muss noch passieren, bis Innenminister Peter Beuth endlich Verantwortung für die lange Kette behördlichen Versagens übernimmt?", so die Reaktion von Saadet Sönmez auf das Gutachten von Forensic Architecture. Die Wahlkreisabgeordnete für den Main-Kinzig-Kreis sitzt auch im Hanau-Untersuchungsausschuss. Sie warf Beuth vor, Versäumnisse nicht ehrlich zu benennen und diese nicht aufzuklären.

Auch der SPD-Fraktionsvorsitzende Günther Rudolph sprach von "eklatanten Fehlern" der Polizei in der Terrornacht von Hanau. Seine Partei forderte, der Polizeieinsatz müsse nun erneut untersucht und bewertet werden.

Grüne und CDU verlangen mehr Akten

Hessens Grüne kündigten an, die Erkenntnisse von Forensic Architecture in die Aufklärungsarbeit im Untersuchungsausschuss einfließen zu lassen. Man werde "die Polizeibehörden in der Befragung damit konfrontieren", sagte Vanessa Gronemann, die für die Grünen im U-Ausschuss sitzt.

Gronemann kritisierte, dass die Künstlergruppe offenkundig "über weitergehende Informationen verfügt, als der Untersuchungsausschuss." Auch der Koalitionspartner CDU bemängelte, der Generalbundesanwalt habe dem Ausschuss bislang nicht alle Akten zur Verfügung gestellt - beispielsweise fehle die Aufzeichnung aus dem Polizeihubschrauber.

CDU: "Tat hätte nicht verhindert werden können"

Die CDU-Landtagsfraktion verteidigte am Freitag die Sicherheitsbehörden: "Der Einsatz der Polizei ist nicht schiefgelaufen, wie von Forensic Architecture behauptet", sagte der CDU-Obmann im Hanau U-Ausschuss, Jörg Michael Müller. Die Staatsanwaltschaft habe das Geschehen geprüft und kein relevantes Fehlverhalten festgestellt - "die Tat hätte nicht verhindert werden können."

Das SEK habe nicht früher zugreifen können, so Müller, weil es zunächst habe klären müssen, "ob beispielsweise Sprengfallen vom Täter angebracht wurden." Dies lasse die Recherche des Künstlerkollektivs außer Acht.

Ausländerbeiräte: "Pannen sind erschütternd"

Schockiert reagierte am Freitag der Landesausländerbeirat Hessen auf die Veröffentlichungen: "Es bedarf offensichtlich erst eines privaten Gutachtens, um der hessischen Polizei ein nahezu totales Versagen in der Hanauer Tatnacht zu attestieren", so der Vorsitzende Enis Gülegen. Er warf den Behörden "Dilettantismus und Unfähigkeit" vor. Die neuen Erkenntnisse würden zeigen zeigen, "dass die Betroffenenfamilien mit fast allen ihren Befürchtungen recht hatten."

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