Warnung vor Unterbesetzung Richterbund fordert 200 zusätzliche Richter und Staatsanwälte

Immer mehr Fälle, immer komplexere Verfahren: Die hessischen Gerichte sind überlastet. Es fehlten 200 Richter und Staatsanwälte, klagt der Richterbund. Die Unterbesetzung könne dazu führen, dass Angeklagte freigelassen werden müssen.
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Richter und Staatsanwälte fehlen

Die Erklärung liest sich wie ein Paukenschlag: "Für 2022 ist bei dem Landgericht Darmstadt kein ordnungsgemäßer Gerichtsbetrieb gewährleistet", teilte das Gericht in einer Mitteilung am 14. Dezember vergangenen Jahres mit. Die Zahl der Verfahren sei so sehr angewachsen, dass ein Abbau derzeit nicht mehr möglich sei, hieß es. Es gebe einfach zu wenig Personal. Es fehlten 25 Richterinnen und Richter. Ähnlich wie in Darmstadt sieht es auch an anderen Orten in Hessen aus.
"Insgesamt fehlen in Hessen 200 Richter und Staatsanwälte", sagt die Sprecherin des hessischen Richterbunds, Christine Schröder. Der hessische Richterbund warnt vor den Folgen der Unterbesetzung. Wenn Angeklagte länger als sechs Monate in der Untersuchungshaft sitzen, müssen sie in der Regel wieder frei gelassen werden - auch wenn ihr Urteil noch aussteht.
OLG-Präsident: "Wäre Bankrotterklärung des Rechtsstaats"
"Es wäre eine Bankrotterklärung des Rechtsstaats, würde es tatsächlich zur Aufhebung von Haftbefehlen wegen Verfahrensverzögerungen kommen", warnt der Präsidenten des Oberlandesgerichts (OLG) Frankfurt, Roman Poseck. Man tue alles, damit das nicht geschehe. Auch am Frankfurter Landgericht fehlen nach Angaben des Richterbunds Dutzende Stellen. Das Defizit hat verschiedene Gründe.
Gerade im Strafbereich werden die Verfahren zunehmend komplexer und dauern vor allem an den Landgerichten im Durchschnitt immer länger. Das liege an zunehmend internationalen Bezügen und an wachsenden Datenmengen, erklärt Richterbund-Sprecherin Schröder.
"Personell und inhaltlich stellen insbesondere Staatsschutz- und Terrorismusprozesse sowie die Internetkriminalität die Strafjustiz vor große Herausforderungen", sagt sie.
Große Staatsschutz-Prozesse schlucken Kapazitäten
Der Mord an Walter Lübcke, das Verfahren zum Völkermord an den Jesiden, der Prozess um Franco A., der Fall des syrischen Arztes, dem Folter im Assad-Regime vorgeworfen wird - das ist nur eine Auswahl an Staatschutzverfahren, die das OLG in den vergangenen Monaten beschäftigt haben und zum Teil noch andauern.
Im November sei deshalb ein zusätzlicher Staatsschutzsenat mit fünf Richtern einberufen worden, so Oberlandesgerichts-Präsident Poseck. Dafür habe man jedoch Personal aus den Zivil- und Familiensenaten umschichten müssen.

Dabei gibt es auch im Zivil-Bereich eine regelrechte Flut an neuen Verfahren: die Dieselklagen wegen der Abgasaffäre etwa, oder Rückforderungen von erhöhten Krankenkassenbeiträgen und Verfahren um Betriebsschließungsversicherungen von Unternehmen, die in der Pandemie betroffen waren.
Zivilverfahren dauern länger
Das Oberlandesgericht Frankfurt schätzt die Zahl der eingegangenen Zivilverfahren im Jahr 2021 auf etwa 7.000. Drei Jahre zuvor waren es noch 4.900. Ähnliche Zahlen verzeichnet das Landgericht Darmstadt: 2018 gab es rund 5.370 Verfahrenseingänge, nach den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres wurden bereits mehr als 5.000 Eingänge registriert. Die Folge: Viele Verfahren bleiben erst mal liegen.
Beim Landgericht Darmstadt türmten sich im September 2021 bereits 8.100 unerledigte Verfahren. Drei Jahre zuvor waren es noch 5.700 gewesen. Die Bestände abzubauen sei "dringend geboten", aber "vollkommen aussichtslos", heißt es im Beschluss des Präsidiums des Landgerichts Darmstadt im Dezember.
Poseck: Belastung der Richter bei 130 Prozent und mehr
Für das OLG Frankfurt befürchtet Roman Poseck, dass insbesondere die Zivilverfahren länger dauern werden. "Und das ist sehr, sehr misslich", sagt er. Dass die Strafverfahren gegenüber Zivilverfahren bevorzugt werden, habe eine problematische Außenwirkung. "Für die Menschen, die zu Gericht kommen, hat ihr Verfahren oft eine ganz hohe, existenzielle Bedeutung", auch wenn es nicht um Strafsachen gehe.
"Wir sollten in der Lage sein, alle Verfahren zügig zu bearbeiten", so der Richter. "Das ist der Anspruch, den man an den Rechtsstaat haben sollte." Doch schon jetzt liege die Belastungsquote der Richterinnen und Richter "bei 130 Prozent und mehr." Sechs bis sechzehn Wochen-Überstunden seien bei Richtern der Normalfall, sagt Christine Schröder vom Richterbund.
Der Eil- und Bereitschaftsdienst, der mittlerweile ebenfalls zu den Aufgaben an Amtsgerichten gehört, trage zu den unattraktiven Arbeitsbedingungen für Berufseinsteigerinnen und -Einsteiger bei. Dabei bräuchten die Gerichte unbedingt Nachwuchs.
Pensionierungswelle rollt auf Hessens Gerichte zu
Doch im Wettbewerb um Uni-Absolventen schneiden die Gerichte nach Schröders Einschätzung schlecht ab. Kanzleien und Unternehmen könnten da mehr bieten. "In der hessischen Justiz verdient ein Berufsanfänger gut 4.000 Euro brutto monatlich", sagt Schröder. In einer internationalen Großkanzlei könnten Absolventen im ersten Jahr ihrer Berufstätigkeit bereits das Dreifache verdienen.
So stocke es beim Nachwuchs, während sich zusätzlich eine riesige Pensionierungswelle anbahnt. Laut Richterbund gehen bei der hessische Justiz in den kommenden zehn Jahren rund 30 Prozent der Richter, Richterinnen, Staatsanwälte und Staatsanwältinnen in Pension. Das sind etwa 600 Menschen. Allein um diese Abgänge aufzufangen, müssten im Jahr 60 Juristen eingestellt werden.
Justizministerin verweist auf Haushaltslage
Beim zuständigen Ministerium scheint die Notlage angekommen zu sein. Sie nehme die derzeitigen zusätzlichen Belastungen durch gestiegene Anforderungen an die Mitarbeitenden in der Justiz "sehr ernst", teilt Justizministerin Eva Kühne-Hörmann (CDU) auf Anfrage mit. Sie wolle die zeitnahe Nachbesetzung von Stellen, die durch Ruhestandseintritte, Abordnungen oder aus sonstigen Gründen frei werden, gewährleisten. Sie spricht von "Verbesserungen im Stellenbereich", verweist aber auch auf die Haushaltslage.
Für OLG-Präsident Roman Poseck ist die aktuelle Last durch personelle Verstärkung allein gar nicht mehr zu bewältigen. Er plädiert für vereinfachte Verfahren. Beispielsweise könne eine schnellere Leitentscheidung des Bundesgerichtshofs zu den Dieselklagen den Gerichten vor Ort Orientierung geben. Auch die technische Ausstattung könne verbessert werden. Letztendlich bleibe es aber dabei: "Die Handlungsfähigkeit der Justiz hängt von den Menschen ab, die dort arbeiten."