Ein abgebrochener Baumstamm im Brensbacher Urwald

In den letzten Jahren hat Hessen zehn Prozent des Staatswalds sich selbst überlassen - dort wachsen nun richtige Urwälder. Das Land hofft, damit auch für Gemeinden und Privatbesitzer ein Vorbild zu sein. Ein Projekt im Odenwald zeigt, wie groß der Nutzen für die Natur sein kann.

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Urwald in Brensbach

Urwald in Brensbach
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Etwas außerhalb des Städtchens Brensbach im Odenwald liegt in südöstlicher Richtung ein kleines Waldstück. Ein sehr kleines. In wenigen Minuten kann man es zu Fuß durchqueren - was unbedingt zu empfehlen ist, denn dieses Waldstück ist ein ganz besonders schönes Fleckchen Erde.

Bereits wenige Meter nach Betreten des Forsts tauchen Besucher und Besucherinnen in ein grünes Paradies ein, fast so, als würde die Natur sie umschließen und in ihre Arme nehmen. Alte Buchen stehen hier neben jungen Sprösslingen, aus dem dichten Blätterdach klingt das Zwitschern der Vögel, hier und da klopft ein Specht seine Löcher in die Bäume. Das alte Laub unter den Füßen raschelt beruhigend, Farne und Waldmeister kitzeln an den Waden. Ein Ort, wo Körper und Seele zur Ruhe kommen.   

Zehn Prozent des Staatswalds sind bereits Urwald

Noch etwas macht diese rund 40.000 Quadratmeter Natur so besonders: Anfang Mai hat die Stadtverordnetenversammlung das Gebiet praktisch zum Urwald erklärt. In den nächsten 30 Jahren wird der Wald nun komplett sich selbst überlassen, er darf ungehindert wachsen und gedeihen – wie ein Urwald eben.

Neu ist die Brensbacher Idee nicht. Allein das Land Hessen hat in den letzten Jahren im Rahmen seiner Biodiversitätsstrategie exakt 2.344 Naturwälder – so der offizielle Begriff – ausgewiesen, wie das Umweltministerium auf Anfrage mitteilte. Zusammen ergeben sie eine Fläche von 32.000 Hektar. Das entspricht 320 Millionen Quadratmetern, also etwa einem Zehntel des gesamten hessischen Staatswalds. Hinzu kommen etliche kommunale und private Projekte, die jedoch nicht zentral erfasst sind.

Angesichts dieser Zahlen wirkt das Brensbacher Projekt wie ein Sandkorn in der Wüste. Allerdings sind es genau diese kleinen Vorhaben, die das Land gerne fördern möchte. Das Umweltministerium hofft, dass sich möglichst viele Gemeinden und Privatbesitzer ein Beispiel am Staatswald nehmen und auch ihre Flächen zu Naturwäldern umfunktionieren.

"Naturwälder sind ein wichtiger Beitrag zum Erhalt der biologischen Vielfalt", erklärt eine Sprecherin des Ministeriums. Auch hinsichtlich des Umgangs mit der Klimakrise spielten Naturwälder eine wichtige Rolle: "Die Beobachtungen der natürlichen Walddynamik gibt wichtige Hinweise für das Ziel, den Wald klimastabil und artenreich für kommende Generationen zu erhalten."

"Ein Kreislauf von Wachsen, Leben und Verfall"

Das kleine Waldstück im Odenwald ist auch deshalb so interessant, weil es ideale Voraussetzungen für eben solche Beobachtungen bietet. "Wir haben hier hauptsächlich bis zu 170 Jahre alte Buchen stehen, dazu viele Habitatbäume, also Bäume, die von Käfern und Insekten bewohnt werden", sagt Karin Kleber, Umweltberaterin der Gemeinde Brensbach. Noch dazu habe der Wald bereits jetzt eine rege Fauna, vor allem Vögel seien hier heimisch. Auch der üppige Unterwuchs und die Abwechslung von lichten und schattigen Bereichen biete perfekte Bedingungen.

In den nächsten 30 Jahren darf der Mensch nun nicht mehr in die Entwicklung des Waldes eingreifen - 30 Jahre, in denen viel passieren wird, wie Kleber schildert. Bäume werden nicht gefällt, Laub bleibt liegen und kann verrotten und auch totes Holz wird nicht weggeräumt und bietet so zusätzliche Lebensräume für so manches krabbelnde und kriechende Tier. "Durch diesen Kreislauf von Wachsen, Leben und Verfall kann sich der Wald einfach wieder normal entwickeln, weil ihm keine Nährstoffe entzogen werden“, erklärt Kleber. "Genau das macht einen natürlichen Wald aus."

Urwälder frei zugänglich

Ausgesperrt wird der Mensch aber nicht. "Der Wald bleibt uns als Menschen natürlich weiterhin erhalten. Wer möchte, ist herzlich eingeladen, unseren Wald auch in Zukunft zu betrachten und zu erkunden", verspricht Brensbachs Bürgermeister Rainer Müller (SPD). Das Ministerium sieht in seinen Naturwäldern die Möglichkeit, "unberührte Natur und das Zusammenspiel der Arten zu erleben".

Für Brensbach bringt das Urwald-Projekt allerdings auch finanzielle Einbußen mit sich. So habe etwa der Verkauf von Holz aus dem eigenen Gemeindewald immer verlässliche Einnahmen gebracht, sagt Müller. "Der Wert für die Natur ist hier allerdings höher als der wirtschaftliche Wert, wenn wir das Waldstück weiter bewirtschaften würden", stellt der Bürgermeister fest.

Land schafft Anreize für weitere Urwälder

Um aber zu vermeiden, dass Gemeinden und private Waldbesitzer sich im Zweifelsfall doch gegen die Natur und für das Geld entscheiden, hat das Land Anreize geschaffen. Für jeden Hektar Naturwald können sogenannte Ökopunkte gesammelt werden, die dann an anderer Stelle etwa für Bauvorhaben eingesetzt werden können. Wer Naturwälder schafft, darf anderswo Flächen versiegeln. Oder positiv ausgedrückt: Wer Flächen versiegeln will, muss erst einmal etwas für die Natur tun.  

Bei Flächen über 1.000 Hektar haben Besitzer sogar die Möglichkeit, über den Wildnisfonds des Bundes einen finanziellen Ausgleich zu erhalten.

Das ist wohl auch mit ein Grund, warum die politischen Gremien in Brensbach beschlossen haben, das Urwald-Projekt ausweiten zu wollen. "Wir suchen bereits nach geeigneten Flächen", so Bürgermeister Müller. Gut möglich also, dass aus der Odenwaldgemeinde Brensbach bald die Urwaldgemeinde Brensbach wird.

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