Polizeieinsatz in Gießen A49-Baumbesetzerin zu Haft verurteilt - Tumult im Gericht

Die Umweltaktivistin "Ella" ist vom Landgericht Gießen zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Sie hat laut Urteil bei den Protesten gegen den A49-Ausbau Polizisten attackiert. Bei der Verkündung kam es zu lautstarken Protesten - und einem Polizeieinsatz.
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Ein Jahr und neun Monate Haft für Aktivistin Ella

Eine Aktivistin, die bei der Räumung der Protestcamps im Dannenröder Forst im Herbst 2020 festgenommen worden war, ist am Freitag vom Gießener Landgericht verurteilt worden. Sie muss laut dem Urteil in diesem Berufungsverfahren wegen zwei tätlicher Angriffe in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung insgesamt ein Jahr und neun Monate ins Gefängnis.
Rund ein Jahr und vier Monate sitzt die Frau schon hinter Gittern: Seit ihrer Festnahme im November 2020 ist sie in Untersuchungshaft, weil ihre Identität auch im Prozess nicht aufgedeckt werden konnte. Sie selbst nennt sich Ella.
Der Richter ordnete an: Der bestehende Haftbefehl gegen die Baumbesetzerin werde aufrechterhalten. Die Untersuchungshaft wird angerechnet, Ella muss entsprechend noch fünf Monate im Gefängnis bleiben. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Eskalation während Urteilsbegründung
Als der Richter die Urteilsbegründung verlas, begannen Demonstranten vor dem Gerichtszelt mit lautem Trommeln, Klatschen und Protestgesängen. Auch im Zuschauerraum wurde protestiert: Rund 20 Menschen standen hinter der Glaswand auf und riefen "Free Ella" und "Hört auf zu lügen", begleitet von lautem Klatschen.
Der Richter brach die Begründung daraufhin ab und drohte, den Zuschauerraum räumen zu lassen. Als die Demonstranten nicht aufhörten, schritten Polizeibeamte ein. Mehrere Aktivisten weigerten sich zu gehen und mussten nach draußen getragen werden.
Angriff auf SEK-Beamte
Ella soll im Herbst 2020 bei der Räumung in rund 15 Metern Höhe nach einem SEK-Beamten getreten haben. Sie wurde unter anderem wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und gefährlicher Körperverletzung angeklagt. Die Verteidigung hatte am Freitag gefordert, dass der Richter das Verfahren komplett einstellen sollte.
Das Landgericht war allerdings davon überzeugt, dass die Aktivistin im Herbst 2020 bei der Räumung eines Protestcamps im Dannenröder Forst einen Polizisten mehrfach ins Gesicht und einmal gegen den Kopf getreten sowie einem weiteren Beamten ihr Knie ins Gesicht gestoßen hatte.
"Klimaschutz ist kein Verbrechen", sagte der Vorsitzende Richter. Er müsse sich aber im Rahmen der Gesetze bewegen. Er warf der Angeklagten ein "totalitäres Verhalten" vor. Das Gericht stützte die Verurteilung insbesondere auf Videos von dem Vorfall im Herbst 2020, um den sich der Berufungsprozess seit Januar drehte.
Verteidigung sieht kein Beweis für Tritte
Ganz anders sah das die Verteidigung von Ella: Das im Berufsungsprozess gezeigte Videomaterial offenbare, dass ihre Mandantin die Polizisten nicht getroffen habe. Auch die SEK-Beamten hätten ihre Aussagen inzwischen geändert und aus Sicht der Verteidigung im Prozess in Alsfeld gelogen, was die Tritte anging.
Ellas Anwältin Eva Dannefeldt sprach von schwerwiegenden Verfahrensfehlern und warf dem Gericht und der Staatsanwaltschaft vor, ihrer Mandantin kein faires Verfahren ermöglicht zu haben, etwa indem entlastenden Hinweisen nicht angemessen nachgegangen worden sei. "Wie blind muss man gewesen sein, über all diese Hinweise hinwegzusehen", sagte Dannefeldt. Nur eine Einstellung des Verfahrens könne kompensieren, was ihre Mandantin habe durchmachen müssen.
Staatsanwältin: "Rechtsstaat mit Füßen getreten"
Die Staatsanwaltschaft hatte vergangene Woche in ihrem Plädoyer zwei Jahre und vier Monate Haft für die Aktivistin gefordert, Ella habe den Rechtsstaat mit Füßen getreten, sagte die Staatsanwältin.
In erster Instanz war die Aktivistin vom Amtsgericht in Alsfeld unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt worden. Dagegen legten sowohl die Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft Berufung ein.
Ella: Minister für "Ökozid" verantwortlich
Auch die Angeklagte selbst meldete sich nach den Plädoyers am Freitag mit einem vorgelesenen Statement zu Wort. Wie auch bisher im Prozess sprach sie auf Englisch und wurde übersetzt. Mit ruhiger, tiefer Stimme las die junge Frau zunächst eine Art Gedicht vor, in dem sie auf den "größeren Kontext der Geschichte" eingehen wollte, wie sie erklärte.
Sie widersprach der Aussage der Staatsanwältin, dass sie eine Feindin des Staats sei. "Ich will nicht die Feindin von irgendjemandem sein." Stattdessen wäre sei gerne bereit, mit der Staatsanwältin, den SEK-Beamten oder Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir (Grüne), der für den "Ökozid durch die A49 verantwortlich ist", einen Tee zu trinken. "Jetzt ist die Zeit gekommen zu vergeben und für mich durch diese Tür in Freiheit zu gehen", sagte die Aktivistin.
Tausende Polizisten, Millionen-Kosten für die Räumung
Der Protest der Umweltaktivisten richtete sich gegen den Weiterbau der A49 durch den Danneröder Forst. Mehr als 100 Hektar Waldfläche sollten der A49 weichen, 27 Hektar davon im Danennröder Forst zwischen Homberg Ohm (Vogelsberg) und Stadtallendorf (Marburg-Biedenkopf).
Im Herbst 2019 begannen hunderte Aktivisten den Wald zu besetzen, sie errichteten Baumhäuser und lebten teilweise vor Ort. Ein Jahr später begann der Polizeieinsatz gegen die Besetzer und Besetzerinnen, über Wochen waren täglich bis zu 2.000 Polizisten vor Ort.
Mehrere Aktivisten und Aktivistinnen wurden bei der Räumung der Camps verletzt. Es kam auch immer wieder zu Angriffen auf Beamte. Die Kosten für die Räumung betrugen rund 31 Millionen Euro. In ganz Deutschland gibt es Verfahren gegen Protestierende, 450 Straftaten wurden insgesamt registriert. Die Rodungs- und Bauarbeiten für die Fertigstellung der neuen Abschnitte der A49 werden voraussichtlich noch bis zum Herbst 2024 andauern.