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"Haben es 14 Tage ausgehalten": Anastasiia über ihre Erlebnisse im Krieg

Im Innenraum einer alten Stube: Drei Frauen stehen hinter drei Menschen, die vor ihnen sitzen und schneiden ihnen die Haare.

Das "Mutter Krauss" war einmal ein bekanntes Hotel in Schwalbach am Taunus. Vor kurzem haben es neue Eigentümer übernommen, die es wieder eröffnen wollten. Doch jetzt bieten sie lieber 70 Geflüchteten aus der Ukraine ein neues Zuhause. Und die ganze Stadt hilft mit.

Die Hofeinfahrt eines alten Fachwerkgebäudes mit Sicht in den Innenhof. Links neben der Einfahrt hängt ein Schild mit der Aufschrift "Mutter Krauss".

Anastasiia ist 16 Jahre alt und erzählt vom Krieg. Mit ruhiger Stimme, kerzengradem Rücken und auf der Tischplatte gefalteten Händen sagt sie, dass ihre Freundinnen und Freunde sie eigentlich Nastya nennen, doch dass diese Freunde gerade um ihr Leben fürchten und zum Teil auf der Flucht seien. So wie sie selbst, bis gestern. Nun sitzt sie in einem dunkelholzvertäfelten Gastraum mit etlichen Ebbelwoi-Bembeln an der Wand und zwei Zapfhähnen auf dem langen Tresen und sagt: "Ich fühle mich hier endlich sicher."

Anastasiia lebt seit einem Tag mit ihren Eltern und Geschwistern im ehemaligen Hotel und Gasthaus "Mutter Krauss" in der Kleinstadt Schwalbach am Taunus. Mehr als 2.000 Kilometer entfernt von ihrer Heimat, der Millionenmetropole Odessa, eigentlich bekannt als "Perle am Schwarzen Meer". Eigentlich. Denn die Stadt wappnet sich für einen russischen Angriff, längst bauen die Einwohner Panzersperren auf den Straßen, Barrikaden an der Küste.

Fliegeralarm, Tag und Nacht - Explosionen, die näher kommen

"Wir haben es 14 Tage nach Putins Einmarsch dort ausgehalten", sagt Anastasiia. Im achten Stock hätte ihre Familie ausgeharrt, ohne eine Möglichkeit, Zuflucht in einem Schutzraum zu finden. Quasi ununterbrochen habe der Fliegeralarm gedröhnt, Tag und Nacht. "Wir konnten kaum eine Stunde am Stück schlafen", sagt sie. Und wenn sie doch mal eingeschlafen sei, hätten ferne Bombenexplosionen sie wieder geweckt.

Als die Explosionen immer näher kamen, habe Anastasias Vater entschieden, zu fliehen. Früh am Morgen habe er seine Frau und die fünf Kinder ins Auto gepackt. Mit den wichtigsten Dokumenten und dem restlichen Bargeld im Gepäck, ohne Klamotten oder Spielzeug für ihre allesamt jüngeren Geschwister, sagt Anastasiia.

Zu siebt flohen sie fünf Tage lang mit dem Auto und in Zügen durch die Ukraine, durch Polen, nach Deutschland. "Wir hatten keinen Plan", sagt Anastasiia. Bloß ein grobes Ziel: Frankfurt, wo eine Verwandte wohnt. Die vermittelte sie dann mangels eigenem Platz nach Schwalbach.

Dort hatten wenige Tage zuvor die fünf neuen Eigentümer des Traditions-Gasthauses "Mutter Krauss" angekündigt, ihre Pläne zu ändern. Restaurant und Hotelzimmer sollten eigentlich modernisiert und das denkmalgeschützte Ensemble mit einem neuen Konzept wiedereröffnet werden.

In zwei Tagen kommen 60 Menschen

"Als der Ukraine-Krieg losging, haben wir gesagt: 'Wir müssen helfen!'", sagt Andreas Schäfer, einer der fünf Eigentümer. "Wir haben hier 25 fertige Zimmer, warum sollen wir die jetzt umbauen, wenn wir Menschen ein Obdach geben können?" Gefragt, getan - Anastasios Papakostas, ein weiterer "Mutter Krauss"-Eigentümer, rief den Schwalbacher Bürgermeister an und teilte das Vorhaben mit.

"Schon hat gefühlt die ganze Stadt geholfen", sagt Papakostas stolz. Dutzende Freiwillige hätten sofort bereit gestanden. "Das Rote Kreuz ist zusätzlich mit 20, 30 Mann hier eingefallen", sagt Schäfer und lacht. Gebäude und Zimmer wurden gründlich gecheckt, kleine Reparaturen erledigt, erste Spenden sortiert. "Und dann haben wir in zwei Tagen 60 Menschen hier untergebracht", sagt Papakostas.

"I love Ukraine & I love Germany" steht mit bunter Kreide geschrieben auf einer Mauer.

Inzwischen leben mehr als 70 Menschen in der "Mutter Krauss" - vor allem Frauen und Kinder. Sie teilen sich eine gemeinsame Küche und auch ein gemeinsames neues Leben. Für zwei Kinder wurden schon Kita-Plätze gefunden, für ein weiteres ein Schulplatz. "Wir behandeln alle so, als würden sie für immer bleiben", sagt Papakostas.

Die Geflüchteten bekommen Deutsch-Unterricht, Unterstützung bei behördlichen Dingen oder Arzt-Gängen. "All das wäre ohne die Hilfe der Schwalbacher gar nicht möglich", sagt Papakostas. Und nicht nur der Schwalbacher. Auch in den Nachbarorten hat sich die Aktion längst rumgesprochen.

Unterstützung durch heimische Unternehmen

Mehrere Unternehmen schicken große Pakete ihrer Produkte, liefern Hygieneartikel, Schmink-Utensilien, Kinderspielzeug und Essen in das Fachwerkhaus mit den leuchtend roten Holzstreben. In einem Raum im Obergeschoss sammeln die Helferinnen und Helfer all das, jeder Geflüchtete darf sich an den Stapeln von Kleidung, Schuhen oder Spielsachen bedienen.

Anfangs sei das den Menschen komisch vorgekommen, berichtet Sandra Vogt, eine der Helferinnen. "Viele waren beschämt, wollten nichts außer Bettwäsche und Handtüchern annehmen", sagt sie. Andere dachten, sie müssten für Unterkunft und Verpflegung bezahlen.

Nach und nach aber nahmen sie die Angebote dankbar an. Auch, als Vogt am vergangenen Wochenende drei Friseurinnen organisierte, die in der "Mutter Krauss" vorbeikamen und kostenlos Haare schnitten. "Wir mussten den Frauen und Kindern erstmal klar machen: Die Friseurinnen sind extra für euch hier, lasst euch eure Haare ruhig schneiden", sagt Vogt.

Der Raum mit den gesammelten und gestapelten Spenden - vor allem Kleider und Drogerieartikel liegen auf Tischen.

Eine, die nun mit frisch geschnittenen schwarzen Haaren in den Hof tritt, ist Ewa. Sie ist 28 Jahre alt und mit ihren drei kleinen Kindern als eine der ersten in dem früheren Hotel untergekommen. Sie sei eigentlich eine Nageldesignerin und stamme aus Zhytomyr, einer Großstadt nahe der belarussischen Grenze.

Gleich nach Beginn des Krieges sei ihre Stadt massiv bombardiert worden, sagt Ewa, viele Gebäude lägen nun in Trümmern. Sie habe drei Tage mit den Kindern in einem Bunker verbracht, ehe sie sich zur Flucht entschieden habe. Im Auto seien sie an die polnische Grenze gefahren, wo Verwandte sie abgeholt und nach Frankfurt gefahren hätten.

"Ich bin froh, jetzt in Sicherheit zu sein und dankbar für die tolle Hilfe hier", lässt Ewa übersetzen. Nun ein Dach über dem Kopf für sich und ihre Kinder zu wissen, beruhige sie. Doch sie mache sich weiter große Sorgen – ihre Eltern und ihr Ehemann seien noch in Zhytomyr. Wie es denen gehe? Ewas Augen röten sich, sie blickt auf den Boden.

Geflüchtete packen mit an

Papakostas, Schäfer, Vogt und all die Helferinnen und Helfer wollen Ewa, Anastasiia und all den anderen Geflüchteten eine Perspektive geben. Damit sie die Schrecken des Krieges hinter sich lassen, einerseits. Damit sie sich integrieren in ihrem neuen Umfeld, andererseits. Schon denken sie darüber nach, ein Café oder eine Bar im "Mutter Krauss" zu errichten, als Begegnungsstätte für Geflüchtete und Einheimische.

Und schon bieten viele der Geflüchteten an, selbst anzupacken. "Am vergangenen Wochenende haben einige Frauen den kompletten Garten auf Vordermann gebracht", berichtet Vogt. Andere hätten angeboten, die Zimmer und Gemeinschaftsräume zu putzen.

Und ein paar andere renovieren schließlich sogar einen alten Umkleideraum so, dass er mit Bett, Stehlampe und Vorhängen als Zimmer für Neuankömmlinge dient. Immer wieder kommen auch Anwohner und Nachbarn, Freunde und Freundesfreunde der Helfer vorbei und packen mit an.

"Das ist so schön zu sehen, diese Hilfe bedeutet uns sehr viel", sagt Anastasiia. Sie, ihre Eltern und Geschwister fühlten sich auf Anhieb willkommen und vor allem beschützt in Schwalbach. Doch eines sei auch klar, sagt sie: "Wir wären nicht hier, wenn zuhause nicht Krieg wäre. Und wir wollen so gerne wieder nach Hause."

Videobeitrag

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Wie versorgt Hessen Geflüchtete aus der Ukraine?

hs
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